Arbeitnehmer sollen immer länger im Beruf bleiben. Dabei nehmen Stress und Arbeitsverdichtung ständig zu. Deshalb muss eine neue Kultur des Arbeitens in die Betriebe einziehen, fordert StZ-Redakteurin Barbara Thurner-Fromm.

Stuttgart - Wolfgang Clement, der alte Provokateur, hat sich gerade mal wieder zu Wort gemeldet. „Wir können nicht bei der Rente mit 65 oder 67 verharren, das greift zu knapp“, hat der frühere Bundeswirtschaftsminister gesagt und gefordert, wer wolle und könne, solle bis zum 75. oder 80. Lebensjahr arbeiten. Für einen 72-jährigen, fitten Geistesarbeiter wie den früheren SPD-Politiker ist die Aussicht, so lange gefragt zu sein, natürlich eine Verheißung. Für einen 64-jährigen Daimler-Arbeiter mit 40 Betriebsjahren auf dem Buckel, eine 62-jährige Altenpflegerin im Schichtdienst oder einen Endfünfziger, der als Leihangestellter praktisch jeden Tag mit dem Ende seines Jobs rechnen muss, klingt das eher wie Hohn. Die meisten Arbeitnehmer erleben doch Arbeitsverdichtung, immer komplexere Tätigkeiten, Zeitdruck und Spardiktate, die zu noch mehr Arbeit, selbstverständlich erwarteten, aber unbezahlten Überstunden, fast grenzenloser Erreichbarkeit führen – und all das bei permanentem Lohndruck.

 

Wie dieser Wandel nicht nur auf die älteren, sondern auf die Erwerbstätigen insgesamt wirkt, haben die Krankenkassen anhand ihrer Daten jetzt vorgerechnet: Jeder Arbeitnehmer hat demnach im vergangenen Jahr durchschnittlich 16 Tage krankheitsbedingt gefehlt – so viel wie seit 1999 nicht mehr. Und seit 2004 ist die Zahl der psychisch kranken Arbeitnehmer um 40 Prozent gestiegen.

Die moderne Arbeitswelt macht krank

Seit 1994 haben sich die Fehlzeiten deswegen nahezu verdoppelt; allein die AOK hat dies im vergangenen Jahr 9,5 Milliarden Euro gekostet. Selbst wenn man den Einwand von Kritikern ernst nimmt, dass auch Krankmeldungen mit der Konjunktur gehen und psychische Leiden schwerer zu diagnostizieren sind als ein Herzinfarkt oder ein Bandscheibenvorfall, so bleibt doch der Besorgnis erregende Trend, dass die moderne Arbeitswelt ganz besonders die Seele der Menschen angreift und krank macht.

Vor diesem Problembefund muss man die IG Metall loben, dass sie sich nun für altersgerechte Arbeitsplätze starkmacht, damit die Menschen gesund bis zur Rente arbeiten können. Das sind neue Töne, denn bisher haben sich die Gewerkschaften vor allem in ihrer Fundamentalopposition zur Rente mit 67 gefallen; Nein zu sagen ist ja auch viel einfacher, als eine unpopuläre Veränderung zu akzeptieren, die für einen stabilen Sozialstaat nötig ist. Doch die Zahl der älteren Arbeitnehmer wird zunehmen; weil die Jungen fehlen, wird man die Älteren schlicht brauchen. Und viele haben wegen drohender Rentenabschläge ja auch gar keine Alternative, als bis zum gesetzlichen Ruhestand durchzuhalten. Die IG Metall signalisiert nun, dass sie diesen gesellschaftlichen Wandel gestalten will. Das ist ein wichtiger Schritt für die Zukunft.

Arbeitgeber stehen in der Pflicht

Die Gewerkschaft kann ihn aber nicht allein gehen. Auch die Arbeitgeber müssen ihren Beitrag leisten. Sie haben die Rente mit 67 immer gewollt, weil sie als Beitragszahler davon profitieren. Doch auch für sie gilt: fordern ist einfach, sich in seinem direkten Umfeld auf Neues einzulassen ist schwieriger und unbequem. Die Krankendaten sprechen aber eine klare Sprache. Die Arbeitgeber stehen in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Beschäftigten nicht überfordert und verschlissen werden.

Es muss umgesteuert werden – nicht nur für die letzten Berufsjahre. In die Unternehmen muss insgesamt eine neue Kultur des Arbeitens einziehen, die Junge nicht gegen Alte ausspielt, sondern Qualifikation und Erfahrung ebenso in den Blick nimmt wie sich verändernde familiäre Anforderungen der Mitarbeiter durch Kinder oder die Pflege von Angehörigen. Darauf hebt auch Wolfgang Clement ab. Arbeit ist dann befriedigend, sogar beglückend, wenn das Arbeitsumfeld den ganzen Menschen sieht und anerkennt, dass seine Leistung immer auch Grenzen hat und eine private Gegenwelt braucht.