Zum Auftakt der Leipziger Buchmesse muss die Frage nach der gesellschaftlichen Bedeutung der Literatur kritisch gestellt werden. Denn viele Autoren geben bisweilen gehörigen Unsinn von sich, meint der StZ-Redakteur Stefan Kister.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Es gehört zu den schönen Gepflogenheiten des Kulturbetriebs, sich anlässlich von Buchmessen der gesellschaftlichen Bedeutung und Wertschätzung der Literatur zu versichern. Was die ökonomische Seite betrifft, könnte eine Meldung wie die, dass es die Leser offenbar wieder mehr in die Buchhandlungen ihres Vertrauens zieht, einen willkommenen Einstieg in die Debatte liefern. Nach dem Abwärtstrend der letzten Jahre verzeichnet der stationäre Buchhandel erstmals wieder eine, wenn auch geringe, Umsatzsteigerung von knapp einem Prozent – immerhin. Die Totgesagten leben noch. Die Gesellschaft hält offenbar einer Institution die Treue, die für die Verbreitung und auf Umwegen auch für die Entstehung guter Bücher zentrale Bedeutung hat.

 

Und doch gibt es zum Auftakt der am Donnerstag beginnenden Leipziger Messe genug Anlass, die Frage nach der gesellschaftlichen Rolle der Literatur einmal kritisch zu stellen. Schuld daran ist nicht der Buchhandel, sondern ein anderer Protagonist: der Autor als Debattenkaspers. Drei Beiträge haben in letzter Zeit die feuilletonistische Erregungskurve in die Höhe getrieben. Alle drei zeichnet ihr krasses Missverhältnis von tabubrecherischem Furor und sachlicher Kompetenz, gedanklicher Schlichtheit und sprachlicher Virtuosität, minimalem Wahrheitsgehalt und maximaler Wirkung aus.

Die deutsche Literatur – ein Ponyhof?

So hat Maxim Biller in der „Zeit“ die deutsche Literatur als eine von Nazi-Enkeln betriebene Domestikationsanstalt für Migrantenautoren beschrieben, denen mit Eindeutschungspreisen ihre Eigenart aberzogen werde. Der Jungautor Florian Kessler sieht den Zustand ähnlich pessimistisch, wenn auch verspielter: als Ponyhof, in dem Arzt- und Lehrerkinder von ihren ersten Tagen im Sattel des Lebens berichten, konformistisch, flott und unendlich belanglos. Am schlimmsten aber und am weitreichendsten hat sich die Büchnerpreisträgerin Sibylle Lewitscharoff vergriffen, wenn sie über die Literatur hinaus gleich die ganze Gegenwart in einem Reproduktionslabor ansiedelt, wo gottlose Homosexuelle und Onanisten abscheuliche Halbwesen fabrizieren.

Nazi-Enkel, Herrenreiter und Frankensteins: das ist das Bild der Zeit, wie es die prägenden Literaturdebatten unserer Tage zeichnen. Doch dieses Bild ist falsch, ja grundfalsch, vergleicht man es mit dem vielgestalten, erregenden Panorama, das die Romane entwerfen, die heute um den Preis der Leipziger Buchmesse konkurrieren, darunter gleich zwei von Autoren, deren Muttersprache nicht Deutsch ist.

Der Weltendeuter hat ausgedient

Sollten Schriftsteller also lieber die Klappe halten und nur schreiben? Das freilich wäre eine These von ähnlicher Pauschalität wie die der genannten Vereinfacher, vermutlich also debattentauglich. Vielleicht liegt gerade in der Erwartung, widerlegt zu werden, die Wahrheitschance jener Irrtümer, die oft am Anfang einer öffentlichen Auseinandersetzung stehen. Wer für Lewitscharoffs Äußerungen das Recht der freien Meinung reklamiert, muss akzeptieren, dass dasselbe Recht auch deckt, sie entsetzlich zu finden. Hielte man dies aus, käme man am Ende doch noch ins Gespräch und könnte die losen Fäden des Diskurses aufnehmen, in dem die Gesellschaft sich über sich selbst verständigt.

Der Autor als Seher und Weltendeuter, dessen autoritatives Wort auf Glaube und Gefolgschaft pocht, hat ausgedient. Aber der unabhängige Betrachter, der aufs Ganze zielende Dilettant, dessen steile Thesen kühn hineinragen in das Expertengedudel der öffentlichen Meinung, kann durchaus den Anstoß geben, einige Dinge genauer und anders zu betrachten. Dieses Potenzial sollte man nicht vorschnell preisgeben, so zumutungsvoll das auch im Einzelfall erscheinen mag. Aus der Täuschung und der Fiktion die Wahrheit zu generieren ist das Privileg der Literatur.