Die Bürgerbeteiligung bei Stuttgart 21 ist gescheitert - und kann doch zum Erfolgsmodell werden. Der Bürger braucht Chancen, seine Interessen zu wahren.

Stuttgart - Jetzt also doch. Das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 hat eine Kehrtwende hingelegt und will nun wieder an der Präsentation der Ergebnisse des Stresstests für den Tiefbahnhof teilnehmen. Die Entscheidung ist richtig, doch das Stuttgarter Experiment, mit Hilfe einer nachgeschalteten Beteiligung zumindest eines Teils der Bürger ein umstrittenes Großprojekt doch noch einigermaßen einvernehmlich zu realisieren, wird durch das Hin und Her nicht befördert. Im Gegenteil: das Aktionsbündnis diskreditiert das Instrument der Bürgerbeteiligung. Das ist auch jenseits der Auseinandersetzung um Stuttgart 21 bedenklich, denn dieses Instrument ist zur Belebung demokratischer Prozesse unabdingbar.

 

Stuttgart ist dafür ein gutes Beispiel, obwohl (oder gerade weil) der Versuch hier gescheitert ist. Als Heiner Geißler im vergangenen Herbst sein Schlichteramt antrat, war die Situation ausweglos verfahren: hier diejenigen, die Stuttgart 21 unbedingt bauen wollen, dort diejenigen, die diesen Bau um jeden Preis verhindern wollen. Die Schlichtung hat vieles erbracht, sie hat neue Fakten zu Tage gefördert, sie hat Versäumnisse in der Planung offenbart, sie hat die Gesprächsatmosphäre verbessert. Aber sie hat nicht zu einem Ausgleich der sich diametral gegenüberstehenden Interessen geführt. Denn eine Schlichtung, einen Kompromiss im eigentlichen Sinn konnte es in dieser Situation nicht mehr geben.

Enorm hohes Vertrauen in Experten

Das Experiment von Stuttgart hat vor Augen geführt, wie sehr die moderne repräsentative Demokratie darunter leidet, dass sie in ihrer Entwicklung viele urdemokratische Elemente verloren hat. Die Stuttgarter Politologen Martin und Sylvia Greiffenhagen haben vor 30 Jahren konstatiert, die Deutschen neigten in Bezug auf Demokratiemodelle eher dem elitetheoretischen zu als dem partizipatorischen. Sie bevorzugten also eine Variante, die eine Politik des "Befehlens und Gehorchens" (Greiffenhagen) begünstigt und nicht jene, die auf eine möglichst hohe Beteiligung der Bürger an Entscheidungsprozessen setzt. Die Tendenz zu einer Politik, die vor allem von Fachleuten und Sachverständigen bestimmt wird, hat sich seither zweifellos verstärkt. Das Vertrauen in Experten und in Institutionen ist, auch im Vergleich zu anderen Ländern, enorm hoch. Wenn der Bürger nun versucht, diesen Trend umzudrehen, seine Interessen zu wahren und sich nicht nur durch sein Kreuz bei der Wahl einzumischen, könnte das der grassierenden Politikverdrossenheit entgegenwirken.

Stuttgart hat aber auch gezeigt, dass diese Bürgerbeteiligung einen Rahmen braucht, der einladender ist als das bisherige Planfeststellungsverfahren; der sicherstellt, dass der Interessenausgleich gesucht wird, ehe eine Entscheidung zementiert ist; der es schafft, Planungsprozesse zu beschleunigen und gleichzeitig die Bürger besser einzubinden. Das Internet stünde dafür als Kommunikationsplattform zur Verfügung, etwa um einen Faktencheck am Anfang der Planung zu hinterlegen. Die Politik wäre gut beraten, partizipatorische Elemente zügig bereitzustellen. Also nicht nur von einer "Politik des Gehörtwerdens" zu reden, sondern sie auch umzusetzen.

Schon jetzt ist absehbar, dass beispielsweise im Zuge der Energiewende viele kleine oder auch größere Konflikte über eine gute Politik entbrennen werden: gut im Sinne des Ausgleichs von individuellen Interessen und den Interessen der Gemeinschaft. Denn wer statt auf Atomstrom auf Energie aus Windkraft setzt, der muss womöglich ertragen, dass die dazu notwendigen Leitungen auch an seinem Haus vorbeiführen. In etlichen dieser Konflikte wird es ähnlich wie bei Stuttgart 21 keinen Kompromiss im eigentlichen Sinn geben können. Eine rechtzeitige und umfassende Bürgerbeteiligung könnte aber dazu führen, dass der Konflikt nicht eskaliert und dass es möglich wird, Entscheidungen zu akzeptieren, obwohl sie nachteilig für einen selber sind.