In der Eurorettung stehen wir an einer roten Linie, jenseits derer nur das Volk durch eine neue Verfassung den Weg zu mehr Europa frei machen kann. Der StZ-Redakteur Stefan Geiger plädiert dafür diese Herkulesaufgabe anzugehen. Sie lohne sich.
Stuttgart – Sie sind aufgewacht. Plötzlich reden Regierung und Opposition, Finanzminister Wolfgang Schäuble und SPD-Finanzexperte Peer Steinbrück, aber auch Bundestagspräsident Norbert Lammert von einem Referendum zur Eurorettung. Bisher haben sie in den Hinterzimmern die Pläne ausgekungelt, mit deren Hilfe sie die große Krise bewältigen wollten. Auch der gigantische Euro-Rettungsschirm mit den kaum überschaubaren Risiken soll auf diese Weise noch fertiggestellt und aufgespannt werden. Die Bürger hätten dabei gestört. Nur niemanden beunruhigen! Aber nun soll es das Volk plötzlich richten. Als ob das so einfach wäre.
Nicht Einsicht hat die Politiker zum Umdenken bewegt, sondern die Angst vor dem Bundesverfassungsgericht. Die Karlsruher sagen schon lange, dass der Spielraum so gut wie ausgeschöpft ist, den das Grundgesetz für die Übertragung weiterer Hoheitsrechte an die EU lässt. Dass wir an einer roten Linie stehen, jenseits derer nur das Volk mit einer neuen, das Grundgesetz ablösenden Verfassung den Weg frei machen kann für mehr Europa. Dazu braucht es eine Volksabstimmung. Weitere Verfassungsänderungen durch das Parlament reichen dafür nicht mehr aus. Seit der vergangenen Woche ahnen die Politiker: die Zeit dafür ist da. Den großen Rettungsschirm lassen die Karlsruher – vielleicht – noch zu. Danach ist wohl Schluss.
Der Bundestag verlöre an Gewicht
Und schon wieder versuchen die Politiker zu tricksen. Sie reden von einem Euroreferendum, nicht von einer neuen Verfassung. Es wird aber nicht genügen, in vertraulichen Runden eine wohlklingende Formulierung zum Euro und zum Haushaltsrecht des deutschen Bundestags auszuhandeln, diesen Halbsatz vom Volk abnicken zu lassen und dann in den Artikel 23, den Europaartikel des Grundgesetzes, einzubauen. Das ist aus ganz unterschiedlichen Gründen viel zu wenig.
Durch die Übertragung von Kompetenzen an Brüssel gibt nicht nur die Bundesrepublik Rechte preis, zunächst einmal verliert vor allem der Bundestag an Gewicht, weil in dessen Königsrecht, die Hoheit über den Haushalt, eingegriffen würde. Innerstaatlich bekäme im Spiel der politischen Kräfte die Regierung dadurch eine Übermacht. Eine neue Verfassung müsste als erstes die delikate Machtbalance der staatlichen Gewalten neu austarieren, nicht nur zwischen Legislative und Exekutive, auch zwischen Bund, Ländern und Kommunen.
Eine neue Verfassung müsste diskutiert werden
Vor allem bedürfte es vor jeder Übertragung weiterer, in Deutschland dann eben nicht mehr durch das Grundgesetz abgesicherter Kompetenzen einer Stärkung der demokratischen Spielregeln in Europa. Wolfgang Schäuble zumindest hat es begriffen: Dazu müssten zumindest das Europaparlament gestärkt, die Europäische Kommission zu einer gewählten Regierung ausgebaut und die Übermacht der nationalen Regierungen im Europäischen Rat begrenzt werden. Schwer vorstellbar, dass alle EU-Länder dem zustimmen würden.
Als die Wiedervereinigung anstand, hätte Deutschland sich gemäß dem Grundgesetz eine neue Verfassung geben sollen. Das Land hat die Kraft dazu nicht gefunden. All das, was damals diskutiert wurde, wird jetzt wieder aufbrechen. Und die Situation hat sich verschärft. Es ist nicht mehr vorstellbar, dass in einer künftigen Verfassung zwar weiterhin die Vergesellschaftung von Bodenschätzen und Produktionsmitteln erlaubt wird, ausgerechnet die von Banken aber nicht. Dieser Widerspruch wäre einer Gemeinschaft, die die Kosten und Risiken etlicher Banken bereits sozialisiert hat, die Gewinne aber den Privaten belässt, kaum zuzumuten. Das ist nur ein Beispiel.
Die Bürger sind selbstbewusster geworden. Sie wollen mitbestimmen, nicht nur abnicken. Und diesmal geht es nicht um die Juchtenkäfer, sondern um den Kern der Demokratie. Es ist eine Herkulesaufgabe. Sie lohnt sich. Packen wir’s an.