Franzosen und Deutsche dürfen Europa nicht beherrschen – aber sie müssen gemeinsam Wege weisen, schreibt der StZ-Politikchef Rainer Pörtner in seinem Kommentar.

Politik/Baden-Württemberg: Rainer Pörtner (pö)

Reims - Die Rangeleien um Eurobonds, Schuldenbremsen und Rettungsschirme lenken ab von den langen Linien der europäischen Politik. Die alltäglichen Aufgeregtheiten überdecken, wie erfolgreich die Einigung der europäischen Völker seit Ende des Zweiten Weltkriegs verlaufen ist. Das Wissen um die gemeinsame Geschichte, das Bewusstsein für die unteilbare Verantwortung der Europäer – beides bedarf deshalb symbolischer Handlungen, manchmal wohl auch theatralischer Inszenierungen, um lebendig zu bleiben.

 

Die Kathedrale von Reims, an der Präsident François Hollande und Kanzlerin Angela Merkel die deutsch-französische Freundschaft beschworen haben, ist ein perfekter Hintergrund für solche Selbstvergewisserung. Die Krönungskirche der französischen Könige steht im kollektiven Bewusstsein sowohl für die Verheerungen des Krieges wie für die Chance auf Versöhnung. Im September 1914, kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs, bombardierten deutsche Soldaten die Kirche – ein militärisch sinnloser Beschuss. Das Zerstören diente vor allem der Demütigung des Gegners. Die Revanche folgte. 1945 erschien der deutsche Generaloberst Alfred Jodl in Reims, um die Kapitulation zu besiegeln, das Eingeständnis der totalen Niederlage des Dritten Reiches. Nur siebzehn Jahre später, am 8. Juli 1962, bekundeten Charles de Gaulle und Konrad Adenauer mit einer Versöhnungsmesse in der Kathedrale ihren Willen, die deutsch-französische „Erbfeindschaft“ zu überwinden und den Weg zu einem einigen Europa zu suchen.

Hollande und Merkel verzichten auf emotionale Gesten

Hollande und Merkel haben die 50-jährige Wiederkehr dieses großartigen Ereignisses in eher schmuckloser Weise begangen. Sie standen nicht, wie François Mitterrand und Helmut Kohl 1984 in Verdun, minutenlang Händchen haltend vor Gedenkkränzen – ein Bild, das um die Welt ging. Hollande und Merkel fanden zwar eindringliche Worte, aber sie verzichteten doch auf emotional aufgeladene Gesten. Diese Nüchternheit reflektiert, dass nun eine Politikergeneration anführt, die selbst den Krieg nicht mehr erlebt hat.

Zum Kernbestand dieser deutsch-französischen Freundschaft gehört die Überzeugung, dass politische Fortschritte in der Europäischen Union nur möglich sind, wenn sich Berlin und Paris unterhaken. Präsident wie Kanzlerin haben dies in Reims bekräftigt. Seit der Versöhnungsmesse im Juli 1962 ist es den politischen Führern diesseits und jenseits des Rheins erstaunlich oft gelungen, trotz teilweise höchst entgegengesetzter politischer Herkunft einen guten, teilweise sogar freundschaftlichen Umgang miteinander zu pflegen. Seit Adenauer/de Gaulle hat es immer wieder deutsch-französische Führungsduos gegeben, die über das normale Maß hinaus harmonierten. Die kühle Angela Merkel und der hibbelige Nicolas Sarkozy verschmolzen sogar zu „Merkozy“.

Hollande hat die Akzente verschoben

Der Wechsel zu Hollande hat die Gewichte in Europa neu verteilt. „Merkozy“ pochten im Kampf gegen die Krise auf Sparen, Sparen, Sparen. Hollande hat die Akzente bereits zu Gunsten milliardenschwerer Wachstumsprogramme verschoben. Die natürlichen Verbündeten des neuen Präsidenten sitzen zurzeit in Rom und Madrid, nicht in Berlin. Für den Moment mag das der innereuropäischen Solidarität sogar zuträglich sein, die Dominanz „Merkozys“ ging vielen zu weit. Hollande warnt selbst vor einem deutsch-französischen „Direktorium“. Präsident und Kanzlerin, die noch spürbar fremdeln, müssen jedoch aufpassen, dass sie nicht zu weit auseinanderdriften. Länger anhaltende Differenzen zwischen Deutschen und Franzosen können die Europäische Union spalten.

Der Tag von Reims hat daran erinnert, dass es auch heute um weit mehr geht als um eine Haushalts- oder Währungskrise. Es geht um die Frage, ob Europa aus der Geschichte gelernt hat und zusammenhält.