Die Protestparteien haben bei der Europawahl gepunktet. Sie geben zwar kein einheitliches Bild ab. Ihr Erfolg zeigt jedoch die Fehler in der EU-Konstruktion auf, meint der Brüsseler StZ-Korrespondent Christopher Ziedler.

Brüssel - Schönrednerei ist die Kunst der Stunde. Dazu gehört, die bei 43 Prozent stagnierende Wahlbeteiligung als Erfolg zu feiern, weil sie erstmals seit 35 Jahren nicht weiter gesunken ist. Natürlich hätte es schlimmer kommen können. Dass aber die nach fünf intensiven Krisenjahren wichtigste Europawahl aller Zeiten kaum die Hälfte der EU-Bürger anlockt, ist nicht weniger besorgniserregend als der Vormarsch der Nationalisten. Auch da arbeitet die Beschwichtigungsmaschine schon auf Hochtouren. So freut sich der siegreiche Spitzenkandidat Jean-Claude Juncker von den Christdemokraten allen Ernstes darüber, dass noch gut zwei Drittel der Sitze an proeuropäische Parteien gegangen sind.

 

Diese aber täten gut daran, die ohrenbetäubend lauten Alarmglocken nicht erneut zu überhören. Schon jetzt ist im Europaparlament de facto nur noch eine große Koalition der abgestraften Parteien der Mitte möglich – im politischen Wettbewerb stets die zweitbeste Lösung. Dass mehr Abgeordnete denn je das Straßburger Plenum nur als Propagandabühne nutzen und der eigentlichen Parlamentsarbeit fernbleiben dürften, macht die Sache nicht besser.

Eine einheitliche Antwort gibt es nicht

Perspektivisch gibt vor allem Frankreich Anlass zur Sorge. Der Sieg von Marine Le Pens Front National bedeutet nicht automatisch, dass sie bei den nächsten Präsidentenwahlen triumphiert und das Land wie versprochen aus der EU führt, was deren Ende wäre. Die Vorstellung aber scheint plötzlich nicht mehr so absurd.

Eine einheitliche Antwort auf den Zulauf für die Protestparteien gibt es nicht. Dazu sind sie zu verschieden. Die Alternative für Deutschland (AfD) hat mit dem antisemitischen Front National oder Neonazis der Goldenen Morgenröte in Griechenland nichts gemein. Übereinstimmungen gibt es mit der britischen Ukip, etwa in dem Ziel, nicht mehr alle EU-Bürger über Europas offene Grenzen zu lassen. Gleichzeitig sieht die AfD die EU-Mitgliedschaft als solche nicht kritisch, sondern nur jene im Euroraum – deshalb sucht sie ihr Heil in einer Fraktion mit den in Großbritannien regierenden Tories. Bei aller Unvergleichbarkeit führt der Erfolg dieser Parteien aber doch zu einem einheitlichen Befund: Es läuft einiges falsch in Europa.

Billige Ersatzdiskussionen schaden Europa

Davon haben auch die Krisenprofiteure des linken Spektrums etwa in Griechenland oder Italien profitiert. Bei aller Not, Haushalte zu sanieren oder marode Staatsapparate zu verkleinern: Die Reformrezepte waren oft sozial unausgewogen und brutal. Keine Vermögensabgaben, kein Beitrag des Finanzsektors, kein entschiedener Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit. Dafür hat Europa die Quittung erhalten.

Nicht nur dafür. Das Totschweigen etwa der AfD in Deutschland hat sich als Bumerang erwiesen. Eine ehrliche Diskussion ist nötig, denn die Analyse der Konstruktionsprobleme des Euro, der längst nicht bewältigten Krise und der demokratisch kaum legitimierten Rolle der Europäischen Zentralbank lässt sich aufschieben. Statt die Konfrontation zu suchen und berechtigte von unberechtigter Kritik zu trennen, haben viele in den etablierten Parteien der Versuchung nicht widerstanden, billige Ersatzdiskussionen über stromsparende Staubsauger und Kaffeemaschinen zu führen, die zwar detailverliebt sein mögen, aber dem Klimaschutz dienen. Wer die EU lächerlich macht, muss sich nicht wundern, wenn diese Haltung salonfähig wird.

Mit dem Erfolg der EU- und Eurogegner wird es nun wichtiger denn je, neben einer weniger einseitigen Wirtschaftspolitik und einer demokratischeren Vertragsgrundlage auch eine ernsthaftere Debatte über Europa herbeizuführen – ohne seine zahlreichen Mängel stets dem ominösen „Brüssel“ anzulasten. Denn in diesem Punkt muss dem britischen Ukip-Parteichef Nigel Farage leider Recht gegeben werden: Die Zeit der Alternativlosigkeit Europas beim Bürger ist am Sonntag zu Ende gegangen.