Die Proteste gegen das Flüchtlingsheim in Berlin-Hellersdorf wecken ungute Erinnerungen. Eine mutige Politik hieße deshalb auch, die protestierenden Bürger auf ihre demokratischen Pflichten hinzuweisen, meint die StZ-Redakteurin Katja Bauer.

Berlin - Ist es vorstellbar, dass drei erwachsene Frauen es nicht ertragen, wenn ein Kind ein Bobbycar besitzt? Ja, das ist es, und zwar dann, wenn das Kind am Ende einer Flucht aus einem Kriegsgebiet das Pech hat, im Asylbewerberheim von Berlin-Hellersdorf zu landen. Dann stehen diese Frauen am Zaun und fragen voller Hass: Wieso steigen diese Menschen aus einem Bus und mussten nicht laufen? Wieso haben sie so viele Dinge, dass sie so große Taschen brauchen? Und unwidersprochen sagt eine der Frauen, am Ende werde es hier brennen. Sie meint ein Haus, das angezündet werden soll, weil sie sich fremde Menschen lieber tot wünscht als in ihrer Nachbarschaft. Es wird einem schlecht.

 

Schlecht angesichts eines Glatzkopfs mit Hitlergruß, angesichts keifender Frauen, die erzählen, dass „unseren Kindern die Bildung weggenommen“ wird, angesichts junger Männer, die von Transferleistungen leben und den halben Tag vor dem Flachbildschirm verbringen, aber den Flüchtlingen noch nicht einmal die Leistungen gönnen, die der Staat ihnen nach dem Urteil der Verfassungsrichter gewährt. Was sich da aus diesen deutschen Seelen nach oben arbeitet, das sind nicht die so genannten Sorgen der Anwohner, von denen manche Politiker jetzt fordern, man müsse sie ernst nehmen.

Eine finstere Mischung bricht sich Bahn

In Hellersdorf bricht sich bei vielen eine finstere Mischung Bahn – sie besteht aus Ressentiments, Rassismus und Sozialneid. 1991 und 1992 führte diese Mischung in Hoyerswerda und in Rostock-Lichtenhagen zu Ausschreitungen. Die Anwohner, die nicht mitmachten, applaudierten. Mehr als 20 Jahre später erleben wir etwas anderes: auf der einen Seite erscheinen moderne, junge Neonazis im zivilen Gewand, die über soziale Netzwerke und im Tarnkleid einer parteien- und politikfernen Bürgerinitiative geschickt die Anwohner munitionieren und die Stimmung schüren. Auf der anderen Seite organisiert die Zivilgesellschaft, ebenfalls weitgehend parteienfern, aus sich heraus eine Hilfsinitiative und eine Dauerdemo für die Flüchtlinge und zeigt Gesicht.

Die finstere Mischung aber bleibt dieselbe. Es siegen der demokratische Unverstand und die Empathielosigkeit derer, die sich selbst schon lange abgehängt fühlen in einer Gesellschaft, die ihnen fremd geworden oder geblieben ist, und in der sie sich niemandem verpflichtet fühlen.

Neonazis verbreiten unwidersprochen Unwahrheiten

Die Politik verschließt mehrheitlich die Augen vor dieser unangenehmen Bestandsaufnahme – und wählt statt der Konfrontation lieber salbungsvolle Worte über Toleranz und Demokratie aus sicherer Distanz. Stattdessen unterzeichnen die Direktkandidaten aller Parteien eine gemeinsame Erklärung, die eher die Galerie erreichen wird als die Carola-Neher-Straße in Hellersdorf.

Derweil können direkt vor Ort Neonazis unwidersprochen Unwahrheiten verbreiten und couragierte Anwohner einschüchtern. Kaum ein Politiker, kein Vertreter des Bezirks stellt sich in dieser Situation vor die Plattenbauten und hört sich an, was die Anwohner zu sagen haben. Es ginge eben nicht darum, den Menschen nach dem Munde zu reden. Mutige Politik wäre in diesem Fall, den Menschen Wahrheiten zu sagen, sich ihnen zu stellen – ihnen Mitgefühl abzuverlangen und Verantwortung und ihnen auch einmal zu widersprechen, wenn sie ein in der Verfassung verbrieftes Grundrecht infrage stellen. Mutig wäre, ihnen zu sagen, dass wir als eines der reichsten Länder der Erde weiter auf Dauer mit einer wachsenden Zahl von Flüchtlingen rechnen müssen, dass wir eine Mitverantwortung für Konflikte tragen, vor denen Menschen fliehen, dass Solidarität das Mindeste ist, Geld kostet und vielleicht das Zusammenleben komplizierter machen wird. Mutig wäre klare Kante. Die Politik aber versagt derzeit in Hellersdorf – und sie bestätigt den Anwohnern zumindest eines ihrer Gefühle: tatsächlich werden sie in der Situation allein gelassen.