Es fällt nicht mehr schwer für Deutschland zu sein, meint der StZ-Sportchef Peter Stolterfoht. Die DFB-Nationalmannschaft ist mittlerweile Vorbild für andere große Fußballnationen. Das war vor einigen Jahr noch ganz anders.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

Stuttgart - Unmittelbar vor einem großen Fußballturnier melden sich Experten zu Wort, die man nicht unbedingt auf der Rechnung gehabt hat: Wolfram Eilenberger zum Beispiel. Und dann macht der Chefredakteur des „Philosophie-Magazins“ den Deutschlandfans via Deutschlandfunk vor dem heutigen Anpfiff der Europameisterschaft in Polen und der Ukraine auch noch wenig Hoffnung. Der DFB-Auswahl fehle das „asoziale Element“ und die „Grundaggressivität“, so Philosoph Eilenberger, der zu dem Fazit kommt: „Die deutsche Nationalelf ist eine erschreckend wohlerzogene Truppe – zu gut, zu nett und zu freundlich für den Titel.“

 

Diese These ändert zum Glück nichts am Plan von Bundestrainer Joachim Löw und seiner Mannschaft: Die Sympathieträger wollen Titelträger werden, nachdem sie bei den Weltmeisterschaften 2006 und 2010 als Dritte sowie bei der EM 2008 als Zweite den großen Wurf knapp verpasst haben. Bei diesen drei Turnieren eroberte das deutsche Team die Herzen der Fans im Sturm. Ausschlaggebend waren dabei nicht allein die mitreißenden fußballerischen Darbietungen, sondern auch die wohltuend dezenten Auftritte von Trainer und Mannschaft außerhalb des Platzes.

Lebertraining am Schlucksee

Was für ein Kontrastprogramm zu den achtziger Jahren, als sich die Nationalspieler in schöner Regelmäßigkeit Verfehlungen jedweder Art leisteten. 1982 wurde die WM-Vorbereitung am Schluchsee in „Lebertraining am Schlucksee“ umbenannt und beim anschließenden Turnier in Spanien ein Nichtangriffspakt mit den Österreichern geschlossen, was als „Schande von Gijon“ in die Fußballgeschichte eingegangen ist. Und dann verletzte der deutsche Torwart Harald Schumacher zu allem Überfluss den Franzosen Patrick Battiston auf brutalste Weise.

Es war damals fast unmöglich, sich mit dieser Mannschaft zu identifizieren, deren Ruf weltweit schlecht war. Und es dauerte lange, das Bild vom hässlichen Fußballdeutschen zu korrigieren. 1990 gönnte der DFB-Mannschaft im Ausland kaum jemand den WM-Titel, und entscheidend anders sah es auch noch nicht 1996 aus, als Deutschland bei der EM letztmals einen Titel holte. Wenn aber der Europameister in drei Wochen Deutschland hieße, würde das überall als eine logische Konsequenz mindestens gutgeheißen werden.

Vorbild für andere Fußballnationen

Mit jungen Spielern, Teamgeist, gelebtem Multikulti und einer offensiven Taktik ist die deutsche Nationalmannschaft zuletzt sogar Vorbild für andere große Fußballnationen wie etwa Frankreich geworden. Das ist ein Erfolg, der höher einzuschätzen ist als ein Titel. Deshalb ist es auch ein richtiges Zeichen, dass Joachim Löw vom DFB – auch für den Fall des Vorrundenausscheidens – bereits eine Jobgarantie erhalten hat. Drei EM-Spiele gegen Portugal, Holland und Dänemark können nicht mehr alles komplett infrage stellen. Der Verband demonstriert damit auch Vertrauen gegenüber den Spielern. Es ist ja auch eine Generation, die nicht nur auf dem Platz mitdenkt. Da äußert sich unter anderem der Kapitän Philipp Lahm öffentlich sehr überlegt zur politischen Situation in der Ukraine und kritisiert den Umgang mit der inhaftierten Oppositionsführerin Julia Timoschenko sowie das Schweigen des Uefa-Präsidenten Michel Platini.

In einem schwierigen politischen Umfeld trat die deutsche Nationalmannschaft auch bei der WM 1978 in Argentinien an, wo eine verbrecherische Militärdiktatur das Turnier zu Propagandazwecken nutzte. Dem damaligen DFB-Kapitän Berti Vogts fiel da nichts Besseres ein, als die Ordnung im Land zu loben und zu betonen: „Ich habe keinen politischen Gefangenen gesehen.“

Berti Vogts wird der „Terrier“ genannt, Philipp Lahm „Kanzler“. Diese beiden Spitzennamen stehen dann auch für den großen Unterschied zwischen alter und neuer deutscher Nationalmannschaft.