Beim historischen 7:1-Erfolg über Brasilien hat die deutsche Fußball-Nationalmannschaft nicht nur spielerisch neue WM-Maßstäbe gesetzt. Sie hat sich auch als Vorbild gezeigt, meint der StZ-Sportchef Peter Stolterfoht.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

Stuttgart - Es gehört nicht besonders viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, wie der Italiener Mario Balotelli oder der Portugiese Cristiano Ronaldo diesen Erfolg zelebriert hätten. Sie hätten sich ihr Trikot vom Leib gerissen und die muskelbepackten Oberkörper martialisch in Stellung gebracht. Nach dem Motto: Schaut her, ich bin der Größte. Bei Miroslav Klose dagegen sieht das ganz anders aus. Die extravagante Triumphpose ist dem deutschen Stürmer fremd. Keine Spur von Heldenabgang: mit hängenden Schultern ist Klose bei seiner Auswechslung vom Feld geschlichen. An diesem Bild war so gar nicht abzulesen, dass sich der 36-Jährige gerade mit 16 Treffern zum besten WM-Torschützen aller Zeiten gemacht und die deutsche Mannschaft im WM-Halbfinale ebenfalls Historisches geleistet hat.

 

Mindestens ebenso beeindruckend wie die fußballerische Leistung bei diesem denkwürdigen 7:1-Erfolg über Brasilien war, wie die deutsche Mannschaft mit dieser einmaligen Situation umgegangen ist. Sie hat diesen Moment nicht freudetrunken auf Kosten des Verlierers ausgekostet, sondern die völlig konsternierten brasilianischen Spieler in den Arm genommen und getröstet – wohl wissend, welche Dimension diese Niederlage für den Gastgeber besitzt. Später sprach der Bundestrainer ganz ruhig von Demut und vom Mitgefühl, das in so einem Moment auch der brasilianischen Mannschaft und ihren Millionen von Fans gelte. Das faire Verhalten, die zurückgenommene und bescheidene Vorstellung nach der Gala haben sich wie ein roter Faden durch diese Mannschaft gezogen. Und das macht den 7:1-Sieg zu etwas wirklich Großem. Dieses Team hat es in Belo Horizonte geschafft, nicht nur spielerisch neue WM-Maßstäbe zu setzen.

Menschliche Qualität ist Löw wichtig

Der Erfolg ist bei der deutschen Mannschaft in den besten Händen. Das war nicht immer so. In schlimmer Erinnerung bleibt der Torhüter Toni Schumacher, der beim WM-Halbfinalsieg 1982 erst Patrick Battiston auf dem Platz und später ganz Frankreich durch unverschämte Kommentare verletzte. Schumacher, der damals beste Torhüter der Welt, hätte es bei Joachim Löw aufgrund von charakterlichen Defiziten vermutlich nicht in den WM-Kader geschafft. An diesem besonderen Abend von Belo Horizonte ist deutlich geworden, was der Bundestrainer gemeint hat, als er vor dem Turnier über seine Nominierungskriterien sprach. Seine Spieler müssten neben den fußballerischen auch die entsprechenden menschlichen Voraussetzungen mitbringen, so Joachim Löw.

Was den deutschen Spielern und ihrem Trainer rund um das Halbfinale gelungen ist, wird von Sportlern oft verlangt, aber fast nie eingelöst: Vorbild zu sein. Hoffentlich haben viele Nachwuchssportler zu später Stunde zuschauen dürfen. Es wäre ein segensreicher Nebeneffekt dieser WM, wenn sie fortan etwas weniger die nach Showeffekten heischenden internationalen Stars nachzuahmen versuchten, sondern vielleicht einen angenehm unaufgeregten Thomas Müller. Der deutsche Torschütze vom Dienst ist einer der vielen Hauptdarsteller in einem Spielfilm, der mit dem Titel „Stilvoll siegen“ zum Klassiker taugt. Einige deutsche Fans, die im Stadion waren, sollten sich den auch unbedingt anschauen. Dann werden sie hoffentlich merken, wie unpassend und peinlich die Gesänge in Richtung der Brasilianer waren: „Ihr könnt nach Hause fahren.“

Wenn die deutsche Nationalmannschaft nach Deutschland zurückkehrt, wird ihr viel Sympathie entgegenschlagen. Das hat maßgeblich mit dem Auftritt in Belo Horizonte zu tun. Und selbst wenn nach dem Finale am Sonntag in Rio der WM-Pokal nicht mit im Flugzeug sein sollte, wird das Team von Joachim Löw zuvor sicher bewiesen haben, dass es nicht nur ein guter Sieger, sondern ein ebensolcher Verlierer ist. Das hätte dann auch wieder Klasse.