In der Sonntags-FAZ war nachzulesen, die Satirezeitschrift „Titanic“ habe der „Süddeutschen“ ein Grass-Fake untergejubelt. Viele nahmen das für bare Münze. Klingt lustig. Ist es aber nicht.

Frankfurt - Die SZ druckt ein Gedicht von Günter Grass, die FAZ behauptet, es sei von der „Titanic“. Ist das lustig? Nein.

 

Am Samstagabend ging der Text auf faz.net online, am Sonntag war er in der Print-Ausgabe der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ (FAS) nachzulesen: Volker Weidermann, Feuilletonchef des Intelligenzblattes, pinselt die Begeisterung aus, die am Freitagnachmittag in der Redaktion der „Titanic“ geherrscht habe, als es dem „Humorblatt“ gelungen sei, ein selbstverfertigtes, „unglaubwürdig schlechtes“ Poem unter dem Titel „Europas Schande“ und unter dem Autorennamen „Günter Grass“ der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) unterzujubeln: „Sie haben (. . .) in aller Eile alles zusammengeschrieben, was Google zu den Suchbegriffen Griechen, Antike und Europa so hergibt, haben dann jeweils die Satzstellung leicht verschoben, die unsinnigsten Genitivkonstruktionen aneinandergereiht und fertig.“

Weidermanns Text war selbstredend eine Satire, und in der Online-Fassung, wie Sie übers Pfingstwochenende zu lesen war, wird das im Vorspann auch halbwegs deutlich gemacht: „,Titanic’ hätte die Persiflage eines Grass-Gedichts auch nicht besser hinbekommen.“ Dieses Signal hielt allerdings eine ganze Reihe Twitter-Nutzer nicht davon ab, postwendend Hohn und Spott über die SZ und die anderen Medien auszugießen, die dem vorgeblichen Scherz aufgesessen seien. Das hörte auch nicht auf, als die SZ-Redaktion durch Verweis auf ein NDR-Video, in dem Grass sein Gedicht höchstpersönlich vorliest, den Irrtum auszuräumen versuchte. Schließlich machte Weidermann selbst via dpa deutlich, dass mitnichten die „Titanic“, sondern der FAS-Mann versucht hatte, witzig zu sein. Zweck der Übung: den Feuilleton-Kollegen in München, mit denen die Frankfurter seit Jahren im zuweilen pubertär anmutenden Dauerclinch liegen, einen mitzugeben. Die Verwirrung im Netz hielt erst einmal an.

Man könnte all das auf die Strukturmerkmale des Web 2.0 zurückführen, nach dem Motto „In diesem Internet liest eh keiner gründlich, der größte Stuss verbreitet sich rasend schnell“ – wenn die leider glaubwürdig mittelmäßige Weidermann’sche Humorergießung in der gedruckten Ausgabe der FAS nicht ausgerechnet in der Feuilleton-Rubrik „Nachrichten“ stünde – ohne Vorspann, ohne „Achtung, Satire!“-Hinweis, dazu über einer tatsächlichen Nachricht, nämlich der, dass die Berliner Staatsoper nicht fertig wird. Man muss nicht von digitaler Reizüberflutung geblendet sein, um das in dieser Form für bare Münze zu nehmen.

Volker Weidermann zog sich im dpa-Interview auf eine Position zurück, die billigstem Borderline-Journalismus schon sehr ähnlich sieht: „Fiktion und Wahrheit“ seien ja „nicht mehr wirklich“ zu unterscheiden. „Ob sich das jetzt die ,Titanic’ oder Günter Grass ausdenkt, ist für mich kein großer Unterschied.“

Für die Leser schon. Weidermann hat einen Witz machen wollen, tatsächlich hat er die um sich greifende Auffassung befeuert, die Welt könne auf verlässliche Qualitätsmedien ganz gut verzichten.