Das Programm von Union und SPD für die neue große Koalition weckt keine Euphorie. Aber die Koalition trägt, meint die Berlin-Korrespondentin Bärbel Krauß.

Politik/Baden-Württemberg : Bärbel Krauß (luß)

Berlin - Wenn man es nüchtern betrachtet, dann sind die Interessen der ganz normalen Bürger und der Parteien, die eine Regierung tragen können, nie generell deckungsgleich. Aber an einem Punkt treffen sie sich eigentlich immer: Beide Seiten wünschen sich, dass diejenigen, die die Macht schließlich in Händen halten, für ihren Umgang damit die Note eins plus mit Sternchen verdienen.

 

Für die Bürger zählt dabei, dass Vorhaben umgesetzt werden, die für die Mehrheit Verbesserungen in der Gegenwart mit sich bringen, dass die Interessen verschiedenster Bevölkerungsgruppen ausgeglichen und Zukunftsaufgaben angepackt werden. Die Politiker ticken genauso, weil sich mit solchen Leistungen bei der nächsten Wahl beim Publikum in aller Regel trefflich punkten lässt.

Aber das Wünschen hilft nicht immer im Leben, und spätestens nachdem die Großkoalitionäre in spe nicht nur ihren Terminplan, sondern auch den Puffer und die Verlängerung gerissen haben, bis sie endlich einig waren, ist klar: Das wird kein Bündnis mit Aussicht auf gute Noten, sondern eines, dass mit Ach und Krach zustande kommt und sich schwertun wird diese Belastung wieder abzuschütteln.

Die aktuelle Lage gibt den großen Wurf nicht her

Ohne die Quälerei auf den letzten Metern der Koalitionsanbahnung hätte man gute Gründe gehabt, Union und SPD viel Rabatt zu einzuräumen. Denn unabhängig von der Performance der Unterhändler steckt die Bundesrepublik derzeit in einer Lage, die den großen Wurf, den spektakulären Aufbruch zu neuen Ufern nicht hergibt. Der Einzug der AfD und die Rückkehr der FDP in den Bundestag machen eine Koalitionsbildung sowohl innerhalb des rechten als auch des linken Lager unmöglich, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Und nach zwei, mit kurzem Abstand aufeinander folgenden gemeinsamen Legislaturperioden haben Union und SPD viele inhaltlichen Gemeinsamkeiten und die Strahlkraft ihrer Spitzenpolitiker weitgehend aufgezehrt. Angesichts dieser Umstände hätte man sich fast schon damit zufrieden geben müssen, würden die alt-neuen Koalitionäre nur mit einem ausgesprochen schwachbrüstigen Arbeitsprogramm aufwarten. Diesen Vorwurf aber verdienen sie nicht.

Die Vorhaben reichen definitiv aus, um eine Regierung zu wagen

Union und SPD haben sich auf viele positive Neuerungen im Großen und im Kleinen verständigt. Dazu gehören die Milliarden für Bildung und Forschung mit einem Investitionsschwerpunkt in den Schulen. Dazu gehört das schnelle Internet in der Fläche und überhaupt die Tatsache, dass der Bund die ländlichen Regionen, ihre Interessen und ihre Versorgung stärker in den Blick nimmt. Dass in Sicherheitsbehörden und Justiz, Pflegekräfte, Wohnungsbau, Baukindergeld investiert wird, ist im Interesse vieler Bürger. Ebenso, dass die Koalition mit der Verständigung auf eine Obergrenze, die nicht so heißt, eine realistischere Grundlinie in ihre Flüchtlingspolitik einziehen will. Gravierende Leerstellen und Defizite gibt es freilich auch, sie werden uns noch beschäftigen. Aber die Frage, ob die Projekte ausreichen, um eine Regierung zu wagen, verdient ein klares Ja als Antwort. Die SPD-Basis, die noch zustimmen muss, davon zu überzeugen, ist der Mühe wert.

Trösten mag die Republik sich außerdem damit, dass die Republik in den Wochen der – vor allem am Anfang in der Vor-Jamaika- und Jamaika-Phase – quälend langsamen, und der – vor allem am schwarz-roten Ende – nervenzerfetzenden Verhandlungstage eine Erkenntnis gewonnen hat: Eine Opposition findet sich in der Demokratie immer. Eine Regierung zustande zu bringen ist dagegen kein Automatismus, sondern eine Leistung. Union und Sozialdemokraten werden regieren, wenn die SPD-Basis sie lässt, und das ist per se eine gute Sache. Wenn die ganzen Unterhändler-Runden ihren Chefs folgen, hat Deutschland fast 140 Tage nach der Wahl jetzt immerhin ein regierungswilliges Bündnis. Endlich.