Grün-Rot schreitet ehrgeizig voran und muss aufpassen, nicht zu viel auf einmal umkrempeln zu wollen. Ein Kommentar von Andreas Müller.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Das Landeswappen musste in diesen Tagen für manchen Kalauer herhalten. Schwarz-gelb sei es, wurde gewitzelt, weil CDU und FDP das natürliche, wenn nicht gottgewollte Regierungsbündnis für Baden-Württemberg darstellten. Grün und Rot passten dagegen gar nicht zu dem strukturell konservativen Bundesland. Wahr daran ist, dass sich die Bürger am 27. März nicht in erster Linie für eine grundlegend neue Politik entschieden haben; der Südwesten wurde ja auch nicht schlecht regiert in den Jahrzehnten der CDU-Herrschaft. Die Mehrheit wollte vor allem einen anderen Politikstil als jenen, den die machtverwöhnte Union und besonders ihr Vormann Mappus zuletzt demonstrierten.

 

Diese Erwartung dürfte das grün-rote Bündnis, das gestern seinen Koalitionsvertrag präsentiert hat, relativ schnell erfüllen. Nicht nur der designierte Ministerpräsident Kretschmann steht glaubhaft für die von ihm propagierte "Politik des Gehörtwerdens". Die Bereitschaft, die Bürger stärker in politische Prozesse einzubinden, Betroffene zu Beteiligten zu machen, zieht sich durch das gesamte Papier der künftigen Partner. Der Anspruch wird nicht immer leicht einzulösen sein, zumal irgendwann auch entschieden werden muss, aber er verdient jede Unterstützung. Alternativlos ist er obendrein, wie inzwischen auch die abgewählte CDU begriffen hat.

An hehren Zielen mangelt es Grün-Rot nicht

So unstrittig der verheißene "Politikwechsel" in der Form sein dürfte, so unterschiedlich wird er in der Sache beurteilt werden. An hehren Zielen mangelt es Grün-Rot nicht. Bessere Bildung für alle ermöglichen, Ökonomie und Ökologie versöhnen, Nachhaltigkeit auch in der Finanzpolitik durchsetzen, als Musterland die Energiewende schaffen - wer wollte solch löblichen Ehrgeiz bremsen? Doch die neue Koalition muss aufpassen, dass sie sich nicht übernimmt, dass sie das Land, die Menschen und die Wirtschaft nicht überfordert.

Gewiss gab es in der Landespolitik in einigen Bereichen Stillstand, gilt es Verkrustungen aufzubrechen und auf manchem Feld den Kurs neu zu justieren. Aber allzu viele Reformgroßbaustellen gleichzeitig sollten Kretschmann und sein SPD-Vize Nils Schmid nicht eröffnen. Sie übernehmen schließlich keinen Sanierungsfall, sondern ein immer noch erfolgreiches, florierendes Bundesland. Da können und müssen ihre zwei Parteien nicht gleich alles umsetzen, was sie in jahrelanger Opposition ersonnen haben. Der künftige Regierungschef sieht solche Bedenken und versucht, sie zu zerstreuen. Schritt für Schritt, behutsam, mit Maß, versichert er ein ums andere Mal, erfolge der Politikwechsel. Und der Bündnisvertrag trägt wohl ganz bewusst den Titel "Der Wechsel beginnt". Soll heißen: da kommt nichts schlagartig über Land und Leute, sondern es soll sich entwickeln.

Stuttgart 21 ausgeklammert

Grüne und SPD haben mit dem Papier eine tragfähige Grundlage für ihre Zusammenarbeit geschaffen - unter Ausklammerung des Themas Stuttgart 21, dessen Sprengkraft bleibt. Beide Seiten finden sich darin mit ihren Kernanliegen wieder, was ebenso für die Verteilung der Ressorts gilt. Die Ökopartei wird sich zum Beispiel um den Umbau der Energieversorgung kümmern, der angesichts des Landesanteils an der EnBW eine besondere Herausforderung darstellt.

Die Genossen wiederum dürfen sich als Anwalt der Wirtschaft, der Arbeitenden und der sozial Schwachen profilieren. Dass sie den Grünen so viele Ressorts abgetrotzt haben, zeugt von der vielzitierten Partnerschaft auf Augenhöhe. Mehr als ein Schönheitsfehler indes ist es, wie die Regierung um ein Ministerium aufgebläht wird. Wer finanzpolitische Nachhaltigkeit verspricht, hätte hier ein anderes Signal setzen müssen. Irritierend wirkt auch die Leichtigkeit, mit der Steuern erhöht und weitere Erhöhungen gefordert werden. Wenn Grün-Rot im Südwesten mehr als eine Episode bleiben soll, gibt es beim Politikwechsel noch einiges nachzusteuern.