Auf dem schrankenlosen Arbeitsmarkt in Europa verludern die Sitten, vor allem im Bereich der Dienstleistungen. Daran sind die Firmen schuld, aber auch die Verbraucher tragen ihren Teil bei, meint der StZ-Redakteur Matthias Schiermeyer.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Es kommt, wie es kommen musste: Jüngst hat eine ARD-Dokumentation unwürdige Arbeitsbedingungen für Leiharbeiter beim Versandriesen Amazon aufgedeckt. Doch was hilft es, die Zeitarbeitsbranche und den Versandhandel jetzt in Grund und Boden zu rammen? Sollten wir uns nicht erst einmal klar darüber werden, dass die Missstände bei Amazon eine logische Folge der Globalisierung sind? Die Bundesregierungen waren über viele Jahre ganz beseelt vom Geist der Globalisierung und bereiteten den weltweit operierenden Konzernen das Feld, damit sie ihre lockeren Wertvorstellungen nach Deutschland importierten. Auch trägt der schrankenlose europäische Arbeitsmarkt zum Verfall der Sitten bei – gerade bei den kaum kontrollierbaren Dienstleistungen.

 

Hinzu kommt das Verhalten der Verbraucher: Müssen wir uns nicht auch selbst anklagen, weil wir das Internet jederzeit für den bequemen und günstigen Einkauf nutzen? Sind wir so naiv, dass wir uns eine saubere digitale Welt vorstellen, in der quasi Automaten die online georderte Ware ins Haus liefern? Tatsächlich sind es Billigkräfte, deren Arbeitsbedingungen uns aber gleichgültig sind. So gesehen wird die Debatte ziemlich scheinheilig geführt.

Die Verbände distanzieren sich von Amazon

Dass die Politik unverzüglich auf die mediale Erregungswelle hüpft, ist einerseits symptomatisch. Andererseits darf man vor allem der Bundesarbeitsministerin zubilligen, dass sie sich mehr von Einsicht als von Populismus leiten lässt, wenn sie wiederholt unwürdige Zustände in der Zeitarbeit anprangert. Ursula von der Leyen hat mit der „Lex Schlecker“ dem sogenannten Drehtüreffekt einen Riegel vorgeschoben, wonach Beschäftigte von einem Unternehmen entlassen und als Leihkräfte umgehend wieder eingestellt werden. Und sie hat die Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften erfolgreich unter Einigungsdruck gesetzt, so dass die Leiharbeiter in immer mehr Branchen die Aussicht auf eine gleichberechtigte Bezahlung haben.

Die Verbände folgen ihr, weil sie für gute Geschäfte dringend auf ein besseres Image angewiesen sind. Umso klarer distanzieren sie sich nun von Amazon. Doch ist das größte Versandhaus der Welt keines der schwarzen Schafe, die irgendwann auf der Strecke bleiben werden. Amazon steht prototypisch für eine neue Einkaufskultur – und es steht für ein intransparentes Geschäftsmodell, in dem Verantwortung auf Subunternehmen delegiert wird und Mitarbeitern ihre Rechte vorenthalten werden.

Öffentliche Aufmerksamkeit ist hilfreich

So konnte im aktuellen Fall eine dubiose Leiharbeitsfirma die Not der von hoher Arbeitslosigkeit geplagten Südeuropäer ausnutzen. Die modernen Wanderarbeiter wurden abgeschottet und schikaniert, ohne dass es groß aufgefallen wäre. Dass selbst die Arbeitsagentur dies nicht eher bemerkt haben will, gehört zu den befremdlichen Erkenntnissen des Skandals. Es reicht nicht, die Ansiedlung neuer Jobs zu bejubeln – so wie in Pforzheim, wo Amazon mit einem Logistikzentrum tausend weitere Stellen schaffen will. Entscheidend ist ihre Qualität. Leiharbeit mag in Spitzenzeiten wie zu Weihnachten im Versandhandel einen Sinn haben. Sie darf aber keine ständige Kalkulationsgrundlage sein, weil dies zur Erosion des Arbeitsmarktes beiträgt.

Amazon & Co. künftig zu meiden würde nichts bringen. Jeder Verbraucher muss selbst darüber urteilen, ob er im Fachgeschäft gut beraten werden will und dafür einen höheren Preis zahlt oder eben nicht. Ziel muss vielmehr sein, alle Unternehmen dazu zu zwingen, ihren Beschäftigten faire Konditionen einzuräumen. Dies kann mit einer Nachjustierung der Gesetze und intensiveren Kontrollen gelingen – aber auch mit öffentlicher Aufmerksamkeit. Wenn laute Vorwürfe ihre Rendite zu beeinträchtigen drohen, reagieren die Unternehmen. Angesichts des gnadenlosen Wettbewerbs im (Online-)Handel bringt ein schlechter Ruf gravierende Nachteile mit sich.