Das Vertrauen der Nato in Russlands Führung ist weg – trotz der gerade ausgehandelten Waffenruhe in der Ukraine, kommentiert StZ-Korrespondent Christopher Ziedler.

Newport - Wäre die Lage nicht so ernst, ließe sich scherzhaft fragen, was denn die Nato ohne ihr altes Feindbild überhaupt machen würde. Der Wales-Gipfel der Allianz hat gerade den Abzug der letzten Kampftruppen aus Afghanistan zum Jahresende bestätigt, auch die Mission auf dem Balkan neigt sich dem Ende zu. Noch vor Jahresfrist überlegten sie im Brüsseler Hauptquartier fieberhaft, wie eine neue Aufgabenbeschreibung für das Bündnis denn aussehen könnte. Aber das ist passé. Mit den Ereignissen in der Ukraine und der Rückkehr der Kriegsgefahr in Europa hat sich die Sinnfrage für die Nato erst einmal erübrigt. Der alte Widersacher Russland ist auch der neue.

 

Der Nato-Gipfel in Wales markiert eine Zäsur in der mittlerweile 65-jährigen Geschichte des Bündnisses. Auf die Gründungsära des Kalten Krieges und die der Interventionen in aller Welt folgt nun eine Wiederbesinnung auf das Kerngeschäft, die Grenzsicherung mit Flugzeugen, Panzern und Soldaten. Im Zentrum des Denkens steht wieder Artikel 5 des Nato-Vertrags, der Schutz der eigenen Mitglieder nach dem Motto: Ein Angriff auf dich ist auch ein Angriff auf mich.

In Osteuropa ist die Allianz bisher nicht abwehrbereit

Man kann der Nato kaum vorwerfen, diese neue alte Rolle bewusst angestrebt zu haben. Sicher, der Westen hat Fehler im Umgang mit der Ukraine gemacht und gnadenlos unterschätzt, wie wichtig das Land für Moskaus Präsidenten Putin ist. Doch es sind die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die inzwischen nicht mehr übersehbare Beteiligung Russlands an der Destabilisierung der Ostukraine gewesen, die in den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten die alten Ängste schürten, die nun zum Nato-Beschluss geführt haben, in Osteuropa aufzurüsten. Denn dort, so die wenig schmeichelhafte Analyse der Militärs, ist die Allianz nicht nur bedingt, sondern überhaupt nicht abwehrbereit.

Es ist klug, dass Kanzlerin Angela Merkel und andere dem osteuropäischen Drängen nach einer dauerhaften Truppenstationierung vorerst nicht nachgegeben haben und die erhöhte Kampfbereitschaft des Bündnisses sich erst einmal darauf beschränkt, Basen in Osteuropa auf den Ernstfall vorzubereiten und eine schnelle Eingreiftruppe für Osteuropa vorzuhalten, die sich gemäß eines alten Abkommens mit Russland aber vor allem im „Westteil“ der Allianz bereithalten wird. Wer rechtstreu bleibt, hält diplomatische Türen offen. Abschreckung ist schließlich kein Selbstzweck, Ziel muss die Rückkehr zu partnerschaftlichen, wenigstens aber stabilen Arbeitsbeziehungen mit Russland sein. Sollte die Krise doch weiter eskalieren, kann man immer noch nachlegen.

Die Nato darf sich nicht auf Russland allein konzentrieren

Die nun für die Ukraine vereinbarte Waffenruhe kommt dabei einem späten, kaum mehr für möglich gehaltenen Indiz gleich, dass Merkels vorsichtige Strategie im Umgang mit Russland doch noch funktionieren könnte. Gerade das Hin und Her der letzten Monate hat jedoch das Vertrauen in die russische Führung derart erschüttert, dass auch die neue Friedensinitiative mit größter Skepsis verfolgt wird – und die Nato nicht dazu animiert hat, die Aufrüstungspläne zu verschieben. Selbst wenn bald Frieden herrschen sollte in der Ukraine, wird eine Normalisierung der Beziehungen mit Moskau noch Jahre dauern.

In der Hoffnung, dass Nato und Russland wieder zueinanderfinden in einer Welt mit islamistischen Terrorgruppen, die Kooperation geradezu erzwingen, sollte die Allianz nicht den Fehler begehen, sich wieder allein auf Russland zu konzentrieren. Die sicherheitspolitischen Herausforderungen werden nicht weniger, es brodelt nicht nur an der „Ostflanke“, sondern auch in der südlichen Nachbarschaft. Das Militärische – so spiegelt es auch der Beschluss, die Wehretats nicht weiter zu kürzen und binnen zehn Jahren zu steigern – verliert nicht, sondern gewinnt an Bedeutung.