Das Regieren mit Winfried Kretschmann wird die Grünen bundesweit verändern. Nun wird sich zeigen, ob Wahlversprechen gehalten werden.

Politik/Baden-Württemberg: Rainer Pörtner (pö)

Stuttgart - Er stellte sich keine Sonnenblumen auf die Regierungsbank. Er kam zur Vereidigung nicht in weißen Turnschuhen wie einst Joschka Fischer. Er trug zum schwarzen Anzug nur eine Krawatte mit wenigen grünen Querstreifen als kleine parteipolitische Referenz.

 

Das äußere Erscheinungsbild von Winfried Kretschmann war keine Nebensächlichkeit an diesem historischen Tag, es war von starker symbolischer Bedeutung: die Grünen sind endgültig angekommen in der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft. Hätte es dafür noch eines weiteren Beweises bedurft, die zwei Abgeordneten aus der "bürgerlichen" Opposition, die im Landtag für Kretschmann stimmten, lieferten ihn.

Die Zeit des Wegduckens ist vorbei

Die Wahl des ersten grünen Ministerpräsidenten ist eine Zäsur. Für Baden-Württemberg, für Deutschland, aber vor allem für die Grünen selbst. In knapp 32 Jahren ist aus der "Anti-Parteien-Partei" eine Volkspartei geworden. Was 1979 als bunte Sammelbewegung von Atomkraftgegnern, Spontis, Linksradikalen, Bürgerschrecks, Wertkonservativen, Pazifisten und Öko-Nationalisten begann, stellt jetzt erstmals einen Regierungschef. Das wird nicht nur das Land verändern, das Kretschmann regiert. Es wird auch die Grünen verändern.

Die Zeit des Wegduckens ist vorbei. Wer eine Koalition anführt, der kann sich nicht mehr hinter seinem Regierungspartner verstecken, wenn es ungemütlich wird - wie es Grüne im Bund und in anderen Ländern nicht selten in rot-grünen Bündnissen taten. Wer den Ministerpräsidenten stellt, der trägt automatisch Verantwortung fürs Ganze, der muss in seiner Politik das Wohl aller Bürger in den Blick nehmen. Die Zeit der Grünen als ökologische Nischenpartei ist ebenfalls Geschichte.

Könnten die Grünen zur stärksten Partei Deutschlands werden?

Auf ihrem langen Marsch durch die Institutionen haben die Grünen bereits viel Eigentümliches abgeworfen: das Rotationsprinzip, das imperative Mandat, das Sympathisieren mit gewaltsamen Widerstandsformen, den Pazifismus - um nur Weniges zu nennen. Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird wohl auch das Prinzip der Doppelspitze zu Ende sein. Regierungschef kann immer nur einer sein, mithin kann auch nur einer Spitzenkandidat sein. Kretschmann hat dies vorgemacht. Renate Künast macht es im Herbst in Berlin nach, wenn sie den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) abzulösen versucht.

Jürgen Trittin und Claudia Roth, Cem Özdemir und Renate Künast drücken sich noch vor einer Antwort auf die Kanzlerkandidaten-Frage. Ihre Zurückhaltung resultiert auch aus Selbstzweifeln, ob der allseits registrierte Höhenflug in den Umfragen wirklich trägt. Wenige Tage vor der Bürgerschaftswahl liegen die Bremer Grünen in Umfragen vor der CDU. Im Bund weisen einige Demoskopen die Grünen vor der SPD und nur noch knapp hinter der Union aus. Können sie sogar zur stärksten Partei in Deutschland werden? Oder ist das alles nur eine polit-konjunkturelle Blase, die über kurz oder lang platzt?

Die Grünen wurden wegen ihrer Versprechen gewählt

Die FDP erlebt gerade, wie flüchtig Zustimmung sein kann. Anderthalb Jahre nach einem Traumergebnis bei der Bundestagswahl sind die Liberalen geschrumpft auf einen kläglichen Rest von Stammwählern, der auch dann noch für die FDP stimmen würde, wenn Philipp Rösler die Verstaatlichung der privaten Krankenversicherung fordert. Die Lehre aus dem FDP-Desaster: der Wechsel vom Opponieren zum Regieren gelingt umso schlechter, je mehr Illusionen eine Partei vorher geweckt hat.

Die Grünen in Baden-Württemberg wurden vor allem für drei Versprechen gewählt: schnell her mit der Energiewende, schnell weg mit Stuttgart 21 und schnell rein in eine "Bürgerdemokratie". In allen drei Versprechen steckt großes Potenzial, die eigene Anhängerschaft zu verprellen. "Erst das Land, dann die Partei", hat Kretschmann auch noch versprochen. Nun wird sich zeigen, ob ihm seine Wähler das durchgehen lassen.