Fritz Kuhn wird neuer Oberbürgermeister in Stuttgart. Sein Rezept: „Keine Experimente“ ist aufgegangen, Sebastian Turner konnte die Wähler weder politisch noch persönlich überzeugen, meint der StZ-Chefredakteur Joachim Dorfs.

Chefredaktion: Joachim Dorfs (jd)

Stuttgart - Um einen goldenen Taler und eine Flasche Schnaps wetteten im Grimm’schen Märchen der Hase und der Igel, wer denn der Schnellere von beiden sei. Das Ergebnis ist seit 200 Jahren bekannt, und es gleicht dem Wahlausgang vom Sonntag in Stuttgart. Mit seinem auf Vermeidung von Fehlern bedachten Wahlkampf ist es Fritz Kuhn gelungen, den hyperaktiven und omnipräsenten Sebastian Turner zu distanzieren. Dem Quereinsteiger gelang es nicht, die Mehrheit der Stuttgarter von seiner politischen und charakterlichen Eignung für das Amt des Oberbürgermeisters zu überzeugen. Kuhn hingegen blieb zwar vielfach blass, aber solide. Turner wollte viel, doch Kuhns Subtext des „Keine Experimente“ schuf Vertrauen. Das war der Schlüssel zum Erfolg: Den Stuttgartern erschien es ein geringeres Wagnis, Kuhn zu wählen.

 

Das bürgerliche Lager hat sich verändert

Mit Kuhns Erfolg setzen sich zwei Serien fort. Die Grüne Welle, die bereits Winfried Kretschmann in das Amt des baden-württembergischen Ministerpräsidenten spülte, rauscht weiter über den Südwesten. Und die CDU verliert nach der Herrschaft im Land auch das wichtigste und symbolträchtigste Rathaus im Land. Deutschlandweit stellt die Union fest, dass ihr politisches Personal und Konzepte für eine großstädtische Klientel fehlen.

Drei Erkenntnisse stechen nach dem gestrigen Tag ins Auge. Erstens: So, wie CDU, FDP und Freie Wähler das bürgerliche Lager definieren, existiert es nicht mehr. In dem Maße, in dem grüne Positionen tief in die konservative Klientel eingedrungen sind, hat die CDU ihre strukturelle Mehrheitsfähigkeit in Stadt und Land verloren. Der erste Machtwechsel in Stuttgart hatte sich schon bei der Kommunalwahl 2009 vollzogen, als die drei heute Turner unterstützenden Parteien die Mehrheit im Gemeinderat verfehlten. Ein allseits geachteter grüner Ministerpräsident und grüne realpolitische Oberbürgermeister haben der Ökopartei ihren Schrecken im bürgerlichen Lager genommen.

Zweitens spielt die Parteizugehörigkeit der Kandidaten für die Mobilisierung der Anhänger offenbar doch eine entscheidende Rolle. Denn dem unabhängigen Unternehmer Turner ist es nicht nur nicht gelungen, über die Parteigrenzen hinaus Stimmen zu gewinnen. Er ist auch innerhalb der CDU gescheitert. Auch die parteilose Bettina Wilhelm, die im ersten Wahlgang unter Wert geschlagen wurde, hat die SPD-Anhänger nicht hinreichend mobilisiert.

Während sich die Sozialdemokraten inzwischen offenbar in ihre kommunalpolitische Bedeutungslosigkeit gefügt haben, steht bei der CDU nach der Schlappe ein Großreinemachen an. CDU-Kreisvorsitzender Stefan Kaufmann ist mit seiner Wahlkampfstrategie gescheitert; sein Auftritt am Wahlabend geriet unfreiwillig komisch. Denn die Kanzlerin kann, anders als Kaufmann meint, ganz und gar nicht zufrieden sein: Der Verlust von Rathaus und Villa Reitzenstein innerhalb von 19 Monaten ist jedenfalls kein Betriebsunfall mehr, der auf unglückliche Umstände zurückzuführen ist. Ein Jahr vor der Bundestagswahl sind das alarmierende Botschaften aus der Ex-CDU-Hochburg nach Berlin.

Nun muss Kuhn zeigen, dass er es kann

Drittens schließlich ist im Wahlkampf deutlich geworden, dass in den politischen Lagern – aller Aggressivität in den vergangenen beiden Wochen zum Trotz – über vieles Konsens besteht. Kuhn und Turner wollten mehr sozialen Wohnungsbau, mehr Kita-Plätze, mehr öffentlichen Nahverkehr. Das kann, sofern die CDU bei ihrem Kehraus diese Positionen nicht kassiert, die politische Konsenssuche nach der Wahl erleichtern. Ohnehin stehen all die schönen Pläne unter Finanzierungsvorbehalt. Denn die drohende Konjunkturkrise wird auch die Stadtfinanzen belasten. „Mit grüner Politik schwarze Zahlen schreiben“, lautete der Slogan von Fritz Kuhn. Nun muss er zeigen, dass er es kann.