Der Triumph in der Oscar-Nacht sollte dem europäischen Film mehr Selbstbewusstsein verleihen, meint StZ-Redakteur Tim Schleider.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Was haben Steven Spielberg, George Clooney, Brad Pitt, Martin Scorsese, Woody Allen und Terrence Malick gemeinsam? Sie sind allesamt angesehene amerikanische Filmregisseure und waren nominiert für den diesjährigen Oscar. Keiner von ihnen wäre eine schlechte Wahl gewesen, jeder hätte im Falle seines Gewinns zum weiter anhaltenden Ruhm Hollywoods als Traumfabrikant dieser Welt beigetragen. Doch am Ende des Abends mussten sie alle klein beigeben. Denn in der Bilanz der diesjährigen Oscarnacht gibt es nur einen großen Sieger: einen Franzosen! Beste Kostüme, beste Musik, bester Hauptdarsteller, beste Regie, vor allem aber „bester Film“: Michel Hazanavicius aus Paris wurde zum Star der Academy Awards – fünf Oscars und Ovationen im Stehen für „The Artist“.

 

Da werden nicht nur Hazanavicius und sein Produzentenfreund Thomas Langmann noch lange in Los Angeles gefeiert haben, da wird auch in Frankreich selbst so manche Champagnerflasche geköpft worden sein. Keine andere westliche Nation pflegt so ungebrochen intensiv eine Filmkultur, die sich keineswegs nur als bescheidene, kleinlaute Ergänzung, sondern als selbstbewusste Alternative zur amerikanischen Großproduktion versteht.

Im Zweifel kommt die Filmkunst aus Frankreich

Ganz im Bewusstsein, das eigentliche Geburtsland der Kunstform Film zu sein – 1895 präsentierten die Brüder Lumière in Paris vor zahlendem Publikum ihre ersten kleinen Werke –, fördert die Grande Nation ihre nationale Filmproduktion kultur- und finanzpolitisch nach Kräften. In den Medien und in der Öffentlichkeit spielen jede Woche die Premieren französischer Filme eine große Rolle. Natürlich machen auch in Frankreich die US-Blockbuster große Kasse. Und dennoch werden die meisten französischen Filmfreunde sagen: Im Zweifel kommt die Filmkunst von uns. Und welch ein Triumph, dass das in diesem Jahr sogar Hollywood – neidlos? – anerkennen muss.

Dazu passt überaus schlüssig die Nachricht vom ersten großen Überraschungserfolg des Kinojahres 2012 in Deutschland. Denn welcher Film zieht bei uns gerade das Publikum massenhaft in die Säle? „Ziemlich beste Freunde“ heißt die herrlich gewitzte Komödie von Olivier Nakache und Éric Toledano über ein sehr ungleiches Männerpaar – und sie stammt aus Frankreich. Mit diesem Kassenerfolg hatte in Deutschland niemand gerechnet. Am 5. Januar stiegen 167 Spielorte bundesweit mit dem Film ein; das nennt man zurückhaltend. In der siebten Abspielwoche sind inzwischen 776 Spielorte auch in den Kinocentern mit von der Partie; die Zuschauerzahl steuert auf die 3-Millionen-Marke zu.

Die französische Art ist manchmal eleganter

Das ist weder das Ergebnis von umfassender Werbung noch von ausufernder Starberichterstattung in „Bunte“ oder den „Mc-Donald’s-Kinonews“. Das ist schlicht der Erfolg von Mund-zu-Mund-Propaganda hochzufriedener Kinozuschauer. Die gelernt haben, dass gerade komplizierte Geschichten auf die französische Art manchmal eleganter und sehr viel spritziger gelingen als ständig nur à l’americain.

Was uns das alles lehrt? Selbstbewusstsein, hoffentlich. Das ebenso populäre wie künstlerisch hochproduktive Kulturgut Film ist ohne den Beitrag Hollywoods weder denkbar noch wünschenswert. Doch die spezielle Sicht und der ganz eigene Stil des europäischen Kinos will weiter gepflegt sein; darum sind die vielfältigen Mittel und Instrumente zur Förderung unserer Filmwirtschaft nicht zu belächeln, sondern zu begrüßen. Sie sind angesichts der Bedingungen des Weltmarktes schlicht notwendig. Keine Frage: der diesjährige Oscargewinner „The Artist“ hätte auch in deutschen Kinos ein paar Zuschauer mehr verdient. Vielleicht macht der Glanz großer Bilder aus Los Angeles ja den einen oder anderen nun neugierig. Wir versichern: Ein Abend mit diesem Oscargewinner ist jede Kinokarte wert. C’est formidable!