Kommentar zur Stuttgarter OB-Wahl Ein Schauspiel für die Macht

Am Ende haben sich Sebastian Turner und Fritz Kuhn einen unschönen Lagerwahlkampf geliefert, meint StZ-Redakteur Holger Gayer.
Stuttgart - Wenn eine Nachricht auch als Stoßseufzer verstanden werden kann, wird es Zeit, dass sich was ändert. Die stoßseufzende Nachricht also: am Sonntagabend ist’s vorbei. Spätestens um 20.15 Uhr, wenn Bootz in Lannerts Porsche steigt, um zum nächsten Tatort zu brausen, wird Stuttgart nicht nur einen weiteren Fall für einen Fernsehkrimi haben, sondern vor allem einen echten neuen Oberbürgermeister. „Fritz Kuhn oder Sebastian Turner?“, lautet die Frage, die 413 000 wahlberechtigte Bürger am Sonntag beantworten werden. In dieser schlichten Formulierung kulminiert ein acht Monate langer Wahlkampf, der am Ende auch mit fiesen Fouls geführt worden ist.
Dabei hatte alles harmlos angefangen. „Miteinander“ plakatierte Sebastian Turner und schlug einen Fairness-Pakt vor – auf dass verbale Tiefschläge unterbleiben. Fritz Kuhn konterte mit der eher ich-bezogenen Aussage, dass es ihm um Stuttgart gehe. Von einem Fairness-Pakt wollte er zwar nichts wissen, in zig Diskussionen aber kuschelten die Rivalen überwiegend mit fast deckungsgleichen Positionen. Das OB-Rennen war gewürzt mit Langeweile.
Seit dem 7. Oktober ist der Ton deutlich rauer geworden
Die Wende hatte ein Datum: den 7. Oktober 2012, Turner im ersten Wahlgang zwei Prozentpunkte hinter Kuhn. Danach drehte sich der Neu-Politiker um 180 Grad: aus dem braven Versöhner wurde der zänkische Angreifer. Turner klopfte plötzlich ganz einfache Sprüche, die an den OB-Wahlkampf von 1996 erinnerten. Als hätte sich die Welt seither nicht gedreht, listete er auf, wofür die Grünen seiner Ansicht nach stehen: „Arbeitsplätze werden gefährdet, Tempo 30 auf allen Straßen, € 6,10 City-Maut pro Fahrt in die Stadt“. Das klang, nicht nur in den Ohren grüner Stammwähler, nach dumpfen Parolen im Lagerwahlkampf eines schwer in Not geratenen.
Wer freilich dachte, der alte Fahrensmann Kuhn würde die Attacken souverän an sich abprallen lassen, sah sich getäuscht. Giftig keilte der Routinier zurück, echauffierte sich über das „dumme Geschwätz“ seines Kontrahenten und offenbarte so einen Einblick hinter die Fassade eines Politprofis, der Wirkung gezeigt hat. Da kam ein Mensch zum Vorschein, der sich so provozieren ließ, dass sich nicht nur CDU-Stammwähler fragen, wie es Kuhn wohl mit Widerspruch halten wird, falls er wirklich Oberbürgermeister wird.
Stuttgart als Zankapfel zwischen grün und schwarz
Ungewiss ist freilich, ob die Stuttgarter die wahren Gesichter der Rivalen überhaupt schon gesehen haben. Der direkte Übergang von weichgezeichneten Smileys zu aggressiven Streitern weist eher auf viel Schauspielerei hin – und auf die Bedeutung, die der hiesige Wahlkampf auch in Land und Bund hat. Während es für die CDU nach der verlorenen Landtagswahl darum geht, mit allen Mitteln wenigstens ihre Machtbastion Stuttgart zu halten, wollen die Grünen hier um jeden Preis ihren Erfolgszug fortsetzen. Insofern findet am Sonntag eine Richtungswahl statt. Und egal, ob man sich aus Überzeugung für einen Bewerber entscheidet oder nur, weil man ihn für das kleinere Übel hält: der Sieger wird die Geschicke Stuttgarts in den nächsten acht Jahren maßgeblich bestimmen. Deswegen ist diese Wahl nicht für Kuhn und Turner wichtig, sondern vor allem für die Bürger der Landeshauptstadt.
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