Die Wahl Recep Tayyip Erdogans zum neuen Präsidenten der Türkei birgt die Chance auf eine Annäherung Ankaras an Europa, meint unser Politikredakteur Knut Krohn.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Stuttgart - Das Telegramm mit den Glückwünschen aus Brüssel spricht Bände. Geschäftsmäßig nüchtern gratuliert José Manuel Barroso dem Wahlsieger Recep Tayyip Erdogan zum Sieg bei der Präsidentenwahl in der Türkei. Der EU-Kommissionspräsident hält sich nicht lange mit Höflichkeiten auf, sondern gibt reichlich unverblümt zu erkennen, was sich Europa vom starken Mann am Bosporus erhofft: dass Erdogan die gespaltene Gesellschaft versöhnt und allen Andersdenkenden den in einer Demokratie notwendigen Respekt entgegen bringt. Diese dürren Zeilen dokumentieren, wo sich die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU befinden: am Tiefpunkt.

 

Beide Seiten begegnen sich mit abgrundtiefem Misstrauen. Brüssel sieht in dem zukünftigen Präsidenten inzwischen vor allem einen gnadenlosen Populisten mit autokratischen Zügen, der den Staat seit vielen Jahren nach seinem Gutdünken umbaut. Auf der anderen Seite fühlt sich der vor Selbstbewusstsein strotzende Erdogan von der EU gegängelt. Er wirft Brüssel vor, den Beitritt seines Landes mit immer neuen Hindernissen zu blockieren.

Entfremdung zwischen der Türkei und der EU

Der Grund für diese Entfremdung ist schnell gefunden. Seit einer gefühlten Ewigkeit führt Ankara Beitrittsverhandlungen mit Brüssel. Mal scheint die eine Seite, mal die andere die Lust an den schwierigen Gesprächen verloren zu haben. Inzwischen ist das Ziel in wohl unerreichbare Ferne gerückt: die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union. Es führt aber kein Weg an der Annäherung der Türkei an Europa vorbei, denn das Land ist nicht nur ein wichtiger Handelspartner, sondern auch ein zentraler außenpolitischer Verbündeter der EU.

In der Wahl Erdogans liegt die Chance, die stagnierenden Verhandlungen zu beleben und mit neuem Realismus in die Gespräche zu gehen. Brüssel muss erkennen, dass ständige – bisweilen auch unberechtigte – Kritik irgendwann den besten Freund vergrätzt. Auf der anderen Seite muss der neue Staatschef verstehen, dass berechtigte Einwände aus Brüssel keine persönlichen Beleidigungen darstellen. Es ist Erdogan selbst, der die Hoffnung auf einen Neuanfang weckt. Denn nach seinem Wahlsieg hat er angekündigt, die Auseinandersetzungen in der „alten Türkei“ zurück zu lassen und eine „neue Türkei“ aufbauen zu wollen. Die EU sollte das als Aufforderung verstehen, auf Ankara zuzugehen und ehrliche Verhandlungen anzubieten.

Zu lange im Klein-Klein verloren

Die Marschrichtung ist klar: Vor- und Nachteile eines Beitritts müssen klar benannt werden. Zu lange haben sich beide Seiten im Klein-Klein des jahrzehntelangen Verhandlungspokers verloren. Politische Placebos wie die Verhandlungen über die Visum-Liberalisierung sind fehl am Platz. Auf den Tisch müssen andere Kaliber: etwa das Beitrittskapitel 23 über Justiz und Grundrechte. Die Gespräche müssen mit harten Bandagen geführt werden und die Diskussionen über die Inhalte dürfen nicht – wie in der Vergangenheit üblich – in Brüssler Hinterzimmern stattfinden.

Erdogan kann dann beweisen, wie er es mit der angekündigten Liberalisierung des Staates hält. Die Zahl der Zweifler ist groß – zu Recht. Denn die Welt hat ihn 2013 während der Proteste im Gezi-Park als selbstherrlichen Regierungschef erlebt, der in seiner politischen Raserei an den Grundfesten der Demokratie rüttelte. In der Stunde des Sieges streckt Erdogan nun seinen Kritikern die Hand zur Versöhnung aus. Er hat offensichtlich erkannt, dass Millionen Menschen nicht in einem schwachen Staat mit einem abgehobenen Herrscher leben wollen, sondern in einer lebhaften und stabilen Demokratie. Auf dem Weg in die von ihm angekündigte „neue Türkei“ muss Erdogan aber den Worten Taten folgen lassen. Dazu muss er über seinen eigenen Schatten springen. Das ist für den Staatschef die größte Herausforderung.