Die Demonstrationen in der Ukraine gehen weiter. Die Regierung hat die Rolle des Bösewichts, die Demonstranten haben die Rolle der Guten. Doch so einfach ist es nicht, meint der StZ-Redakteur Christian Gottschalk.

Politik/ Baden-Württemberg: Christian Gottschalk (cgo)

Stuttgart - Es ist schon bewundernswert, wenn man all die Menschen in der Ukraine sieht, die da Tag für Tag auf die Straße strömen, um ein besseres Leben herbeizudemonstrieren, gegen Willkür und Regierungsversagen, für Demokratie und Menschenrechte. Es ist beeindruckend, wie sie Nacht für Nacht bei zweistelligen Minusgraden dafür kämpfen, dass ihr Anliegen erhört wird, wie sie die Fahne der Ukraine schwingen und jene Europas, beide blau und gelb, auf dass doch endlich zusammenwachse, was zusammengehört. Man möchte ihnen wünschen, dass sich ihre Träume erfüllen, dass die Welt eine bessere für sie wird und Ruhe einkehrt in diesem von West nach Ost und wieder zurück schwankenden Land. Man möchte ihnen helfen – und übersieht dabei nur zu leicht, dass die Sache nicht ganz so einfach ist, wie sie auf den ersten Blick erscheint.

 

Gute Demonstranten gegen schlechte Regierung – das Bild hat sich eingeprägt. Es fällt ja auch leicht, diesem Gedanken zu verfallen, wenn man all die aufgerüsteten Ordnungskräfte sieht, die mit Schild und Panzerung gegen die Menschen vorrücken, die selbst gestrickte Schals und Mützen tragen. Aber ist dieses Vorgehen an sich verwerflich? Seit Wochen geht in Kiew nichts mehr. Eine der wichtigsten Straßen ist lahm gelegt, die Wege in die Regierungszentrale sind versperrt, öffentliche Gebäude besetzt.

Janukowitsch ist kein Diktator

Es gibt Länder, die bei weniger Aufruhr versuchen, diesen zu beenden. In Stuttgart hat man die Demonstranten aus dem Schlossgarten vertrieben, in Paris ist die Polizei mit Wasserwerfern gegen die Gegner der Homo-Ehe vorgegangen. Als die Occupy-Bewegung in New York den Verkehr nur ein klein wenig zum Erliegen brachte, sind Dutzende verhaftet worden. Nun drohen die USA der Ukraine mit Sanktionen. Der Verdacht liegt nahe: es wird mit zweierlei Maß gemessen.

Zumal Viktor Janukowitsch kein Diktator ist. Der ukrainische Präsident ist sicher weit davon entfernt, eine Auszeichnung für gutes Regieren zu erhalten. Aber er ist durch Wahlen ins Amt gekommen, die auch von internationalen Beobachtern überwiegend positive Noten erhalten haben. Es ist legitim, politisch anderer Meinung zu sein als der Präsident. Einen Befreiungskampf gegen einen üblen Despoten führen die Demonstranten aber nicht.

Russland wird weiter kämpfen

Es hilft nichts, die eine Seite zu glorifizieren und die andere zu verdammen – denn letztlich müssen beide zusammen an einen Tisch. Eine starrköpfige, vom momentanen Erfolg beschwipste Opposition ist da ebenso wenig hilfreich wie ein Phrasen dreschender Präsident, der glaubt, mit altbewährter Verschleppungstaktik die Lage unter Kontrolle zu bringen. Das gilt auch für Außenminister auf Abschiedsreisen, die klar Position für eine Partei beziehen. Guido Westerwelle behindert so die gewaltige Vermittlungsaufgabe, die da in Kiew zu erledigen ist.

Diese Angelegenheit ist jedoch nur der kleinere Teil dessen, was bevorsteht. Ohne eine vernünftige Diskussion zwischen der EU und Russland geht nichts voran. Für die russische Außenpolitik ist die Ukraine ein wesentlicher Aspekt im Kampf um den postsowjetischen Raum, denn ohne das größte europäische Flächenland sind weder Zollunion noch Eurasische Union ein Erfolg. Das geplante Assoziierungsabkommen zwischen Brüssel und Kiew hätte also direkte Auswirkungen auf Moskau gehabt. Russland kämpft, und es wird weiter kämpfen. Brüssel muss sich eingestehen, dies nicht hinreichend bedacht zu haben.

Nun ist ein instabiles Land von dieser Größe in unmittelbarer Nachbarschaft ebenso wenig erstrebenswert wie ein bankrottes Vollmitglied mit 46 Millionen Einwohnern. Es gibt also gute Gründe, zusammen mit Moskau nach einem Weg zu suchen, der die Interessen aller Parteien berücksichtigt, ohne die Rolle von Gut und Böse im Vorfeld zu verteilen.