Kein „Erdrutschsieg“ für Premierministerin Theresa May bei den Wahlen in Großbritannien – und wieder steht das Land vor einem unvorhergesehenen Chaos, kommentiert Korrespondent Peter Nonnenmacher.

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

London - Die Briten halten Europa in Atem. Erst hat das EU-Referendum des Vorjahrs ein politisches Erdbeben ausgelöst, dann haben sich durch den Brexit tektonische Schichten verschoben. Nun blockiert ein Wahlfiasko der Regierungspartei den britischen Abkopplungsprozess. Denn bei den Neuwahlen, die Theresa May im April ausrief, um ihren „harten Brexit“ absegnen zu lassen, hat die Premierministerin ihre parlamentarische Basis verspielt und ihre Autorität ruiniert. Die Tory-Chefin hat nicht nur ihre Partei ins Chaos gestürzt. Sie hat auch der Labour-Opposition Gelegenheit zur Konsolidierung gegeben.

 

Außerdem wackelt nach der gescheiterten Wahlaktion der Brexit-Zeitplan der EU, Mays eigene Brexit-Pläne sind fraglich. Am Freitag konnte in London niemand sagen, ob zum geplanten Beginn der Brüsseler Brexit-Verhandlungen in zehn Tagen überhaupt ein britisches Verhandlungsteam zur Verfügung steht. Erst muss in London eine neue (Minderheits-)Regierung gebildet sein. Danach muss man sich neu Gedanken machen über die Form des Brexit.

In Mays konservativer Partei ist alles in nervöser Bewegung, was das betrifft. Wie konnte es jemals so weit kommen? Theresa May hatte geglaubt, dass niemand den Linkssozialisten Jeremy Corbyn ernst nehmen würde. Sie hatte kalkuliert, dass ihr die Stimmen von Labour- und Ukip-Wählern zufallen müssten. Und hier und da, vor allem in Nordengland, ging ihre Rechnung ja auch auf. Anderswo aber schwenkten ehemalige Wähler der rechtspopulistischen Ukip zurück zu ihren Labour-Ursprüngen, weil ihnen Corbyn ein besseres Leben, eine politische Alternative zur herrschenden harten Sparpolitik offerierte.

Leere Phrasen von May

Die Probleme, von denen Corbyn im Wahlkampf sprach, waren jedermann vertraut. So sind zum Beispiel die öffentlichen Dienste in Großbritannien hoffnungslos überlastet. Gemeinden und Schulen sind regelrecht ausgeblutet. Das Gesundheitswesen ist mangelhaft. Die Kluft zwischen Arm und Reich, und zwischen Jung und Alt, nimmt bedrohlich zu. Viele haben Corbyns Auftreten als ehrlich empfunden. May kam ihnen abgehoben und aggressiv vor.

Vor allem aber gelang es Jeremy Corbyn, junge Leute zu mobilisieren und an die Wahlurnen zu bringen. Dieselben jungen Leute, die bei den letzten Wahlen und beim EU-Referendum noch abseits gestanden waren, machten sich bei diesen Wahlen plötzlich auf den Weg. Und während die Jungen vor allem in London und im Süden Englands Labours Stimmenanteil vermehrten, hielten sich viele Ältere, die May verunsichert hatte, zurück. Auch Pro-Europäer, denen Mays blinder Vorstoß zu einem „harten Brexit“ unheimlich geworden war in den letzten Monaten, drängten an die Urnen. „The Revenge of the Remainers“, die Rache der 48 Prozent, die in Europa bleiben wollten, griff um sich.

Resultat dieser Konterrebellion ist es nun, dass die gesamte Brexit-Politik in Frage gestellt ist. In Westminster und darüber hinaus wird man neu ansetzen müssen. Der ehemalige Ukip-Chef Nigel Farage wittert bereits Tory-„Verrat“ und signalisiert seine Rückkehr auf die Bühne. Im neuen Unterhaus könnte sich eine Tendenz für einen weicheren Brexit breit machen.

In der Tat war es eine besondere Ironie dieser „Brexit-Wahlen“, dass vom Brexit die ganzen sieben Wochen über kaum die Rede war. Außer mit leeren Phrasen zur strahlenden Zukunft Britanniens im globalen Rahmen wartete Theresa May mit keinerlei konkreten Auskünften darüber auf, wie das neue Leben der Briten am Rande Europas aussehen würde. Vielleicht gibt der Schock dieser Wahl Anlass zu einer couragierten Neuorientierung. Im Moment ist wieder alles in Fluss geraten in London. Nur eines steht fest: Dass Theresa May, die Urheberin dieses Chaos, den Tag bereuen muss, an dem sie sich zu Neuwahlen überreden ließ.