Bundespräsident Joachim Gauck hat die Debatte um die Zuwanderung nach Deutschland bereichert. Das Land müsse lernen, Vielfalt als Chance zu begreifen. Damit hat er völlig recht, kommentiert der StZ-Redakteur Armin Käfer.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Berlin - Gelegentlich kommt es vor, dass auch protestantische Prediger ihre Botschaften in lateinische Sentenzen verpacken. Der ehemalige Pastor Joachim Gauck zitiert in seiner neuesten Rede eine Weisheit der alten Römer: Ubi bene, ibi patria. Zu Deutsch: Wo es mir gut geht, da ist meine Heimat. Solche Schlussfolgerungen sind mit den strikten Regeln unseres Ausländerrechts und den hohen Hürden für den Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft schwer zu vereinbaren. Der Bundespräsident versucht es gleichwohl.

 

Sein Sprichwort spiegelt eine aktuelle Tendenz wider: Kaum haben selbst Konservative verdaut, dass Deutschland doch ein Einwanderungsland ist, da zählen wir als solches schon zu den beliebtesten der Welt. Das Nationalbewusstsein vieler, die sich für originäre Deutsche halten, hinkt der gesellschaftlichen Realität aber hinterher. Gauck versucht die verklemmten Debatten der vergangenen Jahre über diese Fragen ins Positive zu wenden. Sein Appell lautet: Wir müssen Zuwanderung als Selbstverständlichkeit begreifen, Vielfalt als Chance. Auch Schwarze, Muslime und Menschen, die Olena oder Mehmet heißen, die in Kiew oder Dyarbakir geboren sind, können Deutsche sein. Sie sind dann keine Deutschen zweiter Klasse. Gauck plädiert für ein neues Wir-Gefühl – pathetisch formuliert: ein neues Nationalgefühl.

Die Bundesrepublik ist ein attraktives Land

Die Tatsachen sprechen für sich. Jeder Fünfte, der hier lebt, hat familiäre Wurzeln im Ausland. In vielen Schulklassen sind Kinder, für die das gilt, längst in der Mehrheit. Zu den hervorragenden Repräsentanten deutscher Kultur zählen Leute wir der Regisseur Bora Dagtekin, die Schriftsteller Sasa Stanisic und Ilja Trojanow. Vom Fußball gar nicht zu reden. Die Zahl der Einwanderer wächst rasant. Die Bundesrepublik ist ein attraktives Land – wegen ihrer Wirtschaftskraft, der liberalen Verhältnisse, des guten Rufes von Unternehmen und Hochschulen. Wir müssen lernen, das als Standortvorteil zu verstehen, nicht vorrangig als Risiko. Manchmal erweisen sich Zuzügler, welche diese Attraktivität noch schätzen, als die besseren Deutschen denn jene, die ihrer überdrüssig sind – und sich nur für besser halten.

Deutschland ist ein Produkt der Zuwanderung. Das reicht weit zurück. Preußens Glanz und Gloria hätte es ohne Hugenotten und andere Flüchtlinge aus aller Herren Länder niemals gegeben. Die bundesrepublikanische Wirtschaftsgeschichte nach dem Krieg wäre ohne Vertriebene oder Gastarbeiter anders verlaufen. Unsere Zukunft sähe finster aus ohne Fachkräfte aus dem Ausland und den Nachwuchs der Einwanderer, deren Beiträge die Sozialkassen stabilisieren. Gauck hat recht: Es ist an der Zeit, aus der Defensive zu kommen. Deutschland braucht mehr Zuwanderung. An dieser Erkenntnis kann keiner vorbei, der mit offenen Augen in die Welt blickt.

Es gibt einen dringenden Bedarf an Fachkräften

Damit kein Missverständnis aufkommt: Niemand wäre damit gedient, wenn die erfolgreichste Wirtschaftsnation Europas zum Sozialamt des Kontinents verkommen würde. Unser Land wird nicht verarmen, wenn wir ein paar tausend Flüchtlinge mehr aufnehmen. Es darf aber keine Zuwanderung um jeden Preis geben. Wie andere Einwanderungsländer auch sollten wir diese Debatte unter dem Aspekt führen, welchen Nutzen wir davon haben. Es gibt einen dringenden Bedarf an Fachkräften und Arbeitswilligen jedweder Herkunft.

Das neue deutsche Wir-Gefühl, das Gauck beschwört, ist keine gefestigte Erfahrung. Die Bilder aus Hoyerswerda sind noch nicht verblasst, die Urteile im NSU-Prozess noch nicht gesprochen. Schöne Worte und fromme Wünsche allein immunisieren nicht gegen Fremdenfeindlichkeit. Als Gegengift ist wirtschaftliche Prosperität unerlässlich. Deshalb muss uns an einer Zuwanderung gelegen sein, welche diese fragilen Verhältnisse stabilisiert und nicht gefährdet.