Die EU-Kommission präsentiert mehrere Gesetzesvorschläge, damit die Bürger künftig einfacher ihre Rechte durchsetzen können. Verbraucherschutzverbände begrüßen das. Die Industrie ist skeptisch.

Brüssel - Als Konsequenz aus der Dieselaffäre, bei der Millionen geschädigte Autokäufer in Europa leer ausgingen, will die EU-Kommission die Rechte von Verbrauchern stärken. Die EU-Justizkommissarin Vera Jourova schlägt dafür ein Paket an Maßnahmen mit dem Titel „New Deal für Verbraucher“ vor. Die Kommission will etwa EU-weit Sammelklagen von geschädigten Verbrauchern ermöglichen. Bislang war dies nur in einigen Ländern möglich. Dies führte dazu, dass in den USA Käufer von VW-Dieselfahrzeugen mit Schummelsoftware eine Entschädigung von umgerechnet mehreren Tausend Euro bekamen, während Geschädigte in Deutschland nur Anspruch auf ein kostenloses Update der Motorsoftware haben. Jourova will in der EU keine Sammelklagen nach dem Vorbild der USA erlauben und erteilt einer Klageindustrie wie in den USA eine Absage: Sie setze in der Sache auf „den europäischen Weg“ – es gehe um „mehr Gerechtigkeit für Verbraucher, nicht mehr Geschäft für Anwaltskanzleien“.

 

Der Missbrauch von Sammelklagen soll vermieden werden

Die Kommission schlägt vor, dass Verbraucherschutzverbände kollektiv für Geschädigte Wiedergutmachung erstreiten können. Diese Organisationen müssten klare Kriterien erfüllen – wie etwa, nicht gewinnorientiert zu arbeiten – und als klageberechtigt von den Behörden eines Mitgliedstaates anerkannt sein. Sie müssen transparent Rechenschaft darüber ablegen, woher sie die finanziellen Mittel für eine Sammelklage haben. Außerdem solle die Sammelklage erst dann rechtlich möglich sein, wenn ein nationales Gericht oder eine Behörde eindeutig einen Rechtsbruch durch ein Unternehmen festgestellt habe. So solle Missbrauch des neuen Instruments, etwa durch ein konkurrierendes Unternehmen, ausgeschlossen werden. Mitgliedstaaten sollten zudem regelmäßig kontrollieren, ob die klageberechtigten Organisationen noch die verlangten Kriterien erfüllen. Die EU-Kommission will erstmals dafür sorgen, dass sich Verbraucher in der EU länderübergreifend für eine Sammelklage zusammenschließen können.

Die Kommission plant EU-weit empfindliche Strafen für Unternehmen, die Verbraucherrechte verletzen. Künftig sollen Unternehmen mit einer Buße in Höhe von vier Prozent des jährlichen Umsatzes in einem jeweiligen Mitgliedsland zur Kasse gebeten werden können. Die Mitgliedsländer sollen die Bußen festsetzen und dabei selbst entscheiden können, ob sie über die Vier-Prozent-Marke hinausgehen wollen. Derzeit variieren die möglichen Bußen von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat: In Litauen werden Unternehmen, die Verbrauchertäuschung begehen, höchstens mit einer Geldstrafe von 8688 Euro belegt, in Frankreich, Polen und den Niederlanden werden dagegen bis zu zehn Prozent des Jahresumsatzes fällig. Jourova erklärt: „Mit härteren Sanktionen bekommen die Verbraucherschutzbehörden endlich die Zähne, um die Betrüger zu bestrafen. Es darf nicht billig sein, zu betrügen.“

Die Wirtschaft ist alarmiert

Mit dem Kommissionsvorschlag ist die Sammelklage noch nicht beschlossene Sache. Die Mitgliedstaaten und das Europaparlament müssen als Co-Gesetzgeber noch zustimmen. Bereits jetzt regt sich Widerstand. Andreas Schwab (CDU), Binnenmarktexperte, spricht sich zwar „angesichts der jüngsten Skandale“ eindeutig dafür aus, Schadenersatzansprüche von Verbrauchern neu zu regeln. Er geht aber auf Distanz zu den Vorschlägen Jourovas: „Mit der Einführung von Sammelklagen betritt die EU-Kommission Neuland.“ Es werde einer großen Energieleistung bedürfen, das Paket „auf die europäischen Bedürfnisse zuzuschneiden und noch vor den Europawahlen 2019 abzuschließen“.

Die Wirtschaft ist alarmiert. Der Bundesverband der deutschen Industrie sieht durch die Vorschläge den Rechtsfrieden bedroht. „Sammelklagen schaden unserem fairen Rechtssystem massiv.“ Gerichtsprozesse, die den Kläger bei den Kosten und der Beweisführung drastisch bevorzugen, öffneten Missbrauch und Klagewut Tür und Tor.

Von den Verbraucherschutzverbänden wird der Vorstoß aus Brüssel begrüßt. Otmar Lell, Teamleiter Recht und Handel des Bundesverbandes der Verbraucherschutzzentralen, sagte, dass der Begriff Sammelklage eigentlich nicht ganz zutreffend sei. Es handele sich eher um eine erweiterte Unterlassungsklage. Unterlassungsklagen seien den Verbänden nicht fremd, mit ihnen können auch sie feststellen lassen, dass bestimmte AGBs rechtswidrig seien oder eine irreführende Werbung einen Wettbewerbsverstoß darstelle. Ist diese Rechtswidrigkeit durch eine Klage der Verbände festgestellt, was vor Gericht zwei bis drei Jahre dauern kann, dann könne auch der einzelne Verbraucher Schadenersatz einklagen. „Aber solche Klagen führen oft ins Leere, denn die Rückzahlungsansprüche sind dann oft verjährt. Und kaum ein Verbraucher wird auf eigenes Risiko die Rechtswidrigkeit einer AGB einklagen.“

Für Verbraucher ergeben sich handfeste Vorteile

Kommt die Neuerung – und auch die vom Bundesjustizministerium auf den Weg gebrachte, aber noch strittige Musterfeststellungsklage führt in diese Richtung – ergeben sich für Verbraucher handfeste Vorteile. Lell bringt ein Beispiel: Aufgrund einer rechtswidrigen AGB eines Energieanbieters sei es zu überhöhten Gebührenzahlungen durch den Verbraucher gekommen. Wird die sogenannte Sammelklage eingeführt, dann würde der Verbraucherverband nicht nur feststellen lassen, dass die Gebührenerhöhung rechtswidrig gewesen ist, sondern auch, dass den Verbrauchern die zu viel gezahlten Beträge zurückzuerstatten sind.

Der Berliner Anwalt Remo Klinger, der die Deutsche Umwelthilfe in vielen Prozessen vertritt, nannte die Einrichtung von Sammelklagen „äußerst sinnvoll“. Derzeit bestehe gegenüber vielen Unternehmen auch jenseits des Dieselskandals für die Verbraucher „praktisch kein Rechtsschutz“, gerade wenn es um kleinere Summen gehe. Viele Konzerne ließen Schadenersatzansprüche „in die Verjährung laufen“, zum Beispiel hake es immer wieder bei der Rückgabe bestimmter Produkte, da sie mit hohem Aufwand verbunden sei.