Die Ukraine-Krise spitzt sich dramatisch zu. Der US-Präsident erwartet einen russischen Angriff auf die Ukraine in den nächsten Tagen. Von der Münchner Sicherheitskonferenz kommen neue Appelle an Kremlchef Putin - auch von Kanzler Scholz.

München - Das Auswärtige Amt verschärft seine Reise- und Sicherheitshinweise für die Ukraine erneut. „Deutsche Staatsangehörige werden dringend aufgefordert, das Land jetzt zu verlassen“, heißt es nun auf der Internetseite des Ministeriums. „Die Spannungen zwischen Russland und der Ukraine haben angesichts massiver Präsenz und Bewegungen russischer Militärverbände nahe der ukrainischen Grenzen weiter zugenommen. Eine militärische Auseinandersetzung ist jederzeit möglich.“ Auch Österreich fordert seine Landsleute auf, das Land „unverzüglich“ zu verlassen.

 

Angesichts der besorgniserregenden Nachrichten aus der Ostukraine hat Bundeskanzler Olaf Scholz Russland eindringlich vor einem Angriff gewarnt und zu Verhandlungen aufgerufen. „In Europa droht wieder ein Krieg“, sagte der SPD-Politiker am Samstag auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Der Anspruch müsse nun sein: „So viel Diplomatie wie möglich, ohne naiv zu sein.“

Biden erwartet baldigen Angriff auf die Ukraine

US-Vizepräsidentin Kamala Harris äußerte sich kurz darauf allerdings pessimistisch. „Russland behauptet weiterhin, bereit für Gespräche zu sein, schränkt aber gleichzeitig die Möglichkeiten der Diplomatie ein“, sagte sie. Das Handeln passe einfach nicht zu den Worten.

US-Präsident Joe Biden hatte zuvor in Washington gesagt, dass er einen baldigen Angriff auf die Ukraine - auch auf deren Hauptstadt Kiew - erwarte. „Wir haben Gründe zu glauben, dass das russische Militär plant und vorhat, die Ukraine in der kommenden Woche, in den kommenden Tagen, anzugreifen.“

Scholz ging in seiner Rede in München nicht auf die Äußerung ein und wurde in der anschließenden Diskussion auch nicht danach gefragt. Er betonte aber, dass Russland weiter genug Soldaten für einen Angriff an der Grenze zur Ukraine konzentriert habe.

Für Besorgnis sorgte am Samstag vor allem die Zuspitzung des Konflikts in der Ostukraine, wo sich bereits seit 2014 die Regierungsarmee und die von Russland unterstützten Separatisten gegenüberstehen. Im Westen wird befürchtet, dass Kremlchef Wladimir Putin die dortigen Kämpfe als einen Vorwand für einen Einmarsch in die Ukraine nutzen könnte, indem er behauptet, dass er die prorussische Bevölkerung in der Ostukraine schützen müsse.

Kamala Harris: „Drehbuch russischer Aggression“

US-Vizepräsidentin Harris sprach von einem „Drehbuch russischer Aggression“. „Wir erhalten jetzt Berichte über offensichtliche Provokationen und wir sehen, wie Russland Falschinformationen, Lügen und Propaganda verbreitet“, sagte sie. Der britische Premierminister Boris Johnson warf Moskau vor, ein „Spinnennetz an Falschinformationen“ aufzubauen.

Nach Angaben von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg gehören dazu auch Berichte über einen Rückzug russischer Streitkräfte aus dem Grenzgebiet zur Ukraine. „Trotz Moskaus Behauptungen haben wir bisher keine Anzeichen von Rückzug und Deeskalation gesehen. Im Gegenteil: Russlands Aufmarsch geht weiter“, sagte er.

Scholz kritisierte in seiner Rede, dass Russland die Frage einer möglichen Nato-Mitgliedschaft der Ukraine zum „casus belli“ - zum Kriegsgrund - erhoben habe. „Das ist paradox: denn hierzu steht gar keine Entscheidung an“, betonte Scholz. In „naher Zukunft“ werde es nicht zu einem Nato-Beitritt der Ukraine kommen.

Bei Verhandlungen mit Russland müsse zwischen unhaltbaren Forderungen Russlands und legitimen Sicherheitsinteressen unterschieden werden. Für nicht verhandelbar erklärte Scholz das Recht auf freie Bündniswahl, also auch die prinzipielle Möglichkeit für die Ukraine, der Nato beizutreten. „Gleichzeitig gibt es Sicherheitsfragen, die für beide Seiten wichtig sind. Allen voran Transparenz bei Waffensystemen und Übungen, Mechanismen zur Risikovermeidung oder neue Ansätze zur Rüstungskontrolle.“

Scholz bekräftigte auch seine Absage an Waffenlieferungen in die Ukraine. Er wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Deutschland der größte Geber finanzieller Hilfen für die Ukraine sei und diese auch fortsetzen werde.

Vergeltung angedroht

Beide Konfliktparteien rief Scholz auf, die Minsker Friedensvereinbarung für die zwischen prorussischen Separatisten und Regierungstruppen umkämpfte Ostukraine umzusetzen. „Natürlich mache ich mir keine Illusionen. Schnelle Erfolge sind nicht zu erwarten. Aber: Wir werden die Krisendynamik nur durchbrechen, wenn wir verhandeln.“ Es gehe schließlich um nichts Geringeres als den Frieden in Europa.

Für den Fall eines Einmarsches in die Ukraine drohten Teilnehmer der Sicherheitskonferenz der russischen Führung erneut Vergeltung an. Die EU und ihre transatlantischen Partner arbeiteten weiter an einem robusten Paket finanzieller und wirtschaftlicher Sanktionen, auch in Sachen Energie und Spitzentechnologie, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. „Das riskante Denken des Kreml, das aus einem dunklen Gestern stammt, könnte Russland seine blühende Zukunft kosten.“ Seine Politik bedeute in der Praxis, „Angst zu schüren und das Ganze als Sicherheitsbedenken zu tarnen“ sowie „44 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern zu verwehren, frei über ihre eigene Zukunft zu entscheiden“.

EU auf Stopp von Gaslieferungen gerüstet

Die EU selbst ist nach Angaben von der Leyens mittlerweile vollständig für den Fall eines Stopps von russischen Gaslieferungen gerüstet. „Heute kann ich Ihnen mitteilen, dass - selbst bei einer völligen Unterbrechung der Gasversorgung durch Russland - wir diesen Winter auf der sicheren Seite sind“, sagte sie.

Neben der russischen Führung machte von der Leyen auch der chinesischen Führung Vorwürfe. Für beide stehe „das Recht des Stärkeren über der Rechtsstaatlichkeit, die Einschüchterung über der Selbstbestimmung, der Zwang über der Zusammenarbeit“, sagte sie.

Chinas Außenminister Wang Yi unterstützte auf der Münchner Sicherheitskonferenz Appelle für eine friedliche Lösung des Ukraine-Konflikts und eine Rückkehr zum Minsker Abkommens zur Beilegung des Konflikts. „Warum können sich nicht alle Seiten zusammensetzen und detailliert Gespräche führen und einen Zeitplan erarbeiten, wie dieses Abkommen umgesetzt werden kann“, sagte er am Samstag laut Übersetzung. „Das ist das, was alle Parteien tun sollten, worauf sie sich konzentrieren sollen - anstatt die Spannungen zu erhöhen, Panik zu schüren und vielleicht sogar noch das Risiko eines Krieges zu sensationalisieren.“