Die radikalen Befürworter eines unabhängigen Kataloniens nutzen die Bilder von den brutalen Einsätzen der Polizei gegen die Teilnehmer am Referendum für ihre Propaganda. Die Zeichen verdichten sich, dass Spanien auf einen Ausnahmezustand zusteuert.

Korrespondenten: Martin Dahms (mda)

Barcelona - Wer an der Grundschule Ramon Llull in der Avinguda Diagonal von Barcelona vorbeiläuft, muss glauben, dass hier ein schreckliches Unglück geschehen ist. Das Gitter des Schultores ist mit roten Nelken und Rosen behängt, dazwischen Solidaritätsbotschaften, Papierherzen, Luftballons – und eine schwarzgefasste Brille: „Verloren während der Belagerung der Schule Ramon Llull“, steht zur Erläuterung daneben. Auf dem Schulhof spielen Kinder. „Belagerung“ ist ein Wort aus der Kriegsrhetorik, und es wird hier nicht unschuldig benutzt.

 

Wahr ist, dass sich hier am vergangenen Sonntag hässliche Szenen während der Polizeieinsätze gegen das katalanische Unabhängigkeitsreferendum ereignet haben. Gegen 10 Uhr drangen schwarz gekleidete Beamte in die Schule ein, entrissen den Wahlhelfern die Urnen und schossen während ihres Rückzuges auf der Straße mit Gummimunition auf die Demonstranten: Ein Mann wurde am Auge getroffen und musste hinterher operiert werden.

Die Aktivisten blasen die Ereignisse bis zur Unkenntlichkeit auf

Die Bilder von knüppelnden Polizisten in Barcelona gewannen ihre fatale Kraft daraus, dass der Einsatz gegen friedliche Wähler geführt wurde – wenn jene auch an einer illegalen Abstimmung teilnahmen. Die Separatisten lassen sich die Gelegenheit zur Propaganda nicht entgehen. Sie sind endlich Märtyrer. Das Schultor in der Avinguda Diagonal ist einer ihrer Altäre. Um sich zum Opfer eines repressiven spanischen Staates zu stilisieren, blasen sie die Ereignisse vom Sonntag bis zur Unkenntlichkeit auf.

„Erkläre es der ganzen Welt“, rief eine 33-jährige Aktivistin einer Freundin in einer Audiobotschaft zu, die danach tausendfach geteilt wurde, „sie haben mir die Finger gebrochen, einen nach dem anderen, das ist große, große Bosheit.“ Fußballtrainer Pep Guardiola verbreitete die Erzählung von den gebrochenen Fingern in einem TV-Interview weiter. „Die spanischen Medien werden die einzigen sein, die das verstecken, aber die internationale Presse hat es gesehen“, sagte er. Was die internationale, die spanische und die katalanische Presse später sahen, waren Bilder der 33-Jährigen, wie sie von einem Polizisten an der rechten Hand gepackt wird, während sie danach mit verbundener linker Hand auftaucht – eine Gelenkkapselentzündung, gestand sie später der Öffentlichkeit, sonst nichts.

König Felipes Ansprache heizt die Stimmung zusätzlich auf

900 Menschen sollen bei den Polizeieinsätzen verletzt worden sein. „Eine solche Bilanz gibt es in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht“, erklärte Jordi Sánchez, Chef der Pro-Unabhängigkeitsbewegung ANC. Außer dass er die Kriege in Jugoslawien und andere Katastrophen beiseite ließ, berief er sich auf schwer überprüfbare Zahlen des katalanischen Notfalldienstes. Der zählte offenbar jeden Menschen, der sich an diesem Sonntag hilfesuchend an ihn wandte, sei es mit Schwindelgefühl, Panikattacken oder blauen Flecken. Ins Krankenhaus wurden am Sonntag vier Menschen eingeliefert. Das sind vier zu viel. Als Grundlage für einen mitunter schamlosen Opferdiskurs sind es zu wenige.

Zu allem Überfluss hat die Rede von Königs Felipe am Dienstag die Stimmung zusätzlich angeheizt. Auf den König hören die katalanischen Separatisten schon lange nicht mehr. Sie leben im Geiste schon in einer unabhängigen Republik Katalonien. Felipe selbst versuchte gar nicht, Brücken zu den rebellischen Separatisten zu bauen, stattdessen las er ihnen die Leviten. „Sie haben alle demokratischen Prinzipien eines jeden Rechtsstaates gebrochen, sie haben die Harmonie und das Zusammenleben in der katalanischen Gesellschaft selbst untergraben“, wetterte er. Und wie eine Bombe ließ er den Satz fallen: „Es ist die Verantwortung der legitimen Mächte des Staates, die verfassungsmäßige Ordnung und das normale Funktionieren der Institutionen zu sichern.“

Das katalanische Parlament bereitet die Erklärung zur Loslösung vor

Das war der königliche Segen für alle Schritte, die die spanische Regierung gegen die Separatisten unternehmen wird. Felipe hatte Recht, doch es hätte ihm nicht schlecht angestanden, auch Worte der Versöhnung zu sprechen, am besten auf Katalanisch. Aber er wollte nicht. Die Positionen sind abgesteckt. Das katalanische Parlament wird voraussichtlich am Montag die Unabhängigkeit erklären. Die spanische Regierung wird diese Erklärung nicht nur ignorieren, sondern mit aller ihr zur Verfügung stehenden Macht gegen die Anstifter vorgehen. Ob erklärt oder unerklärt: In Spanien wird der Ausnahmezustand herrschen.

Der Funke, der den katalanischen Brand zum Ausbruch bringen dürfte, wäre die Festnahme von Regionalpräsident Carles Puigdemont und anderen separatistischen Politikern. Es gab in diesen Tagen erste beunruhigende Anzeichen für den Willen zur Revolte: Belagerungen von Parteizentralen und den Vertretungen spanischer Institutionen. Wie gut die Separatisten organisiert sind, haben sie gezeigt, als sie gegen alle Macht des spanischen Staates ein zumindest dem Anschein nach seriöses Referendum auf die Beine stellten. Ein einziges Machtmittel der Regierung in Madrid scheint dagegen erste Folgen zu zeigen: die Kontrolle über die katalanischen Finanzen. Der Regionalregierung geht das Geld aus. Doch es hilft nichts: Die Separatisten glauben sich im Recht, und das macht sie unberechenbar.