Müssen mehr Rehe abgeschossen werden, um Jungbäume im geschwächten Wald zu schonen? Die Meinungen von denen, die es betrifft, gehen nicht selten auseinander. Hier kommen ein Jäger und ein Förster zu Wort.

Filder - Von einer großen starken Eiche ist der dürre Halm weit entfernt. Sebastian Pizur kniet neben dem Winzling. Der Leiter des Forstreviers, das sich etwa zwischen Vaihingen und Plieningen erstreckt, weiß, woran die Mini-Eiche darbt. Rehe haben an den Trieben geknabbert. Die Pflanze nebenan wurde verschont. Sie ist doppelt so hoch. „Wenn der Verbiss zu stark ist, kommt da nie ein gerader Baum raus“, sagt er. Die Gefahr besteht aus seiner Sicht jedoch. Der 31-Jährige, der Forstwirtschaft und Ökosystemmanagement studiert hat, sagt: „Es gab noch nie so viel Wild wie heute.“

 

Zahlen aus dem Ministerium für Ländlichen Raum geben ihm recht. Dort wird die Größe der Population am Abschuss bemessen. Wurden im Jagdjahr 1998/1999 im Land noch 139 000 Rehe getötet, waren es 20 Jahre später knapp 30 000 mehr. „Das Reh ist gewissermaßen auf dem Vormarsch“, sagt der Sprecher Jürgen Wippel. Die Tiere fänden durch menschengemachte Strukturen mehr zu fressen, die Winter würden milder. Eine gewisse Verbissbelastung sei da, „wenn es Probleme vor Ort gibt, sind die im Miteinander zu lösen“. In der Regel heißt die Antwort: noch mehr bejagen. Um den deutschen Wald zu schützen, soll in Kürze eine Novellierung des Bundesjagdgesetzes verabschiedet werden. Zentrale Änderung: Fixe Abschusspläne sollen abgeschafft werden, stattdessen sollen Waldbesitzer und Jäger sich verständigen, wie viele Tiere mindestens erlegt werden sollen; eine Regelung, die es in Baden-Württemberg so längst gibt.

Das macht die Jagd gefährlich

Nicht immer kommen die Parteien aber auf einen grünen Zweig. Sigmar Zappe ist Jäger in Filderstadt. Er sagt: mehr schießen geht nicht. Der erste Grund dafür schiebt laut tönend Fahrräder vorbei. Kinder auf Ausflugstour. Der Bonländer Wald ist Naherholungsgebiet. „Dieses Jahr ist es extrem“, sagt er, das mache die Jagd gefährlich. Konsequenz: „Auf die Wiese raus kommt das Reh nicht.“ Der Kreisjägermeister Thomas Dietz spricht auch von einem deutlich gesteigerten Publikumsverkehr, vor dem das Wild ausweicht.

Sigmar Zappe ist 51. Der hünenhafte Mann mit Rehmotiven auf den Hosenträgern jagt seit 1985. Den Rehbestand in seinem Bereich schätzt er auf 35 bis 45 Tiere. „Jagd ist dafür da, den Zuwachs abzuschöpfen“, wenn aber er und seine Kollegen wie vom örtlichen Förster gefordert 70 Tiere in drei Jagdjahren erlegen sollen, gerate man ins Minus. Sigmar Zappe benutzt das Wort Ausrottung. Überhaupt: Er verweigert sich der Quotenjagd. Ein wenige Monate altes Kitz bringe vielleicht drei Kilo Fleisch. „Dafür töte ich kein Tier.“

Etliche Fichten hat der Borkenkäfer dahingerafft

Sebastian Pizur kennt solche Konflikte. „Der Jäger hat eine andere Zielsetzung als der Grundstücksbesitzer“, sagt er und blickt sich im Weidach- und Zettachwald um. Auf den ersten Blick sieht es im Naturschutzgebiet zwischen Fasanenhof und Plieningen saftig grün aus. Doch der Schein trügt. Etliche Fichten hat der Borkenkäfer dahingerafft, Eschentriebe sterben durch Pilze ab. Eine tote Erle steht an einem Bach, der kein Wasser führt. S-21-Bauarbeiten hätten den Grundwasserspiegel absinken lassen, „die Bäume sind mehr auf Regen angewiesen“, aber der fehlt. Sprich: Der Wald ist unter Druck, „und die Rehe sind ein Teil von vielen“, sagt Pizur.

Die Stadt Stuttgart hat gehandelt, nachdem ein Verbissgutachten einen hohen Rehbestand bescheinigt hatte. Seither bejagt sie das Naturschutzgebiet in Eigenregie. Auch Sebastian Pizur hat als Förster einen Jagdschein und besteigt regelmäßig die 14 Hochsitze. Bis zu 15 Rehe sollen pro Jahr sterben, um jungen Tannen und Eichen bessere Chancen einzuräumen. Sie sind resistenter gegenüber Trockenheit, stehen aber auf dem Reh-Speiseplan oben. Zur Jagd geht Sebastian Pizur meist kurz vor Sonnenaufgang, abends seien zu viele Jogger und Radler unterwegs. Ja, Erholungssuchende machten Jagdpächtern die Arbeit schwerer, „aber Pächter ist man ja freiwillig“.

Die Holzpreise seien eh im Keller

Während Wald- und Wildpflege bei Plieningen aus einem Guss sind, wird in Filderstadt noch gezankt. Sigmar Zappe sieht den Bonländer Wald nicht in Gefahr, „meiner Ansicht nach gibt es genug Jungwuchs“. Auch die für den Verkauf von Stammholz nötige Zertifizierung, die der Wald wegen des Verbisses zu verlieren droht, sei verzichtbar. Die Holzpreise seien im Keller. „Der Wald stirbt, weil die Forstwirtschaft vor 80, 100 Jahren Fehler gemacht hat“, man habe zu sehr auf Monokulturen gesetzt. Das Reh werde zum Sündenbock gemacht.

„Ein Waldumbau nur mit der Büchse wird nicht funktionieren“, sagt Erhard Jauch, Geschäftsführer des Landesjagdverbands (LJV), gleichwohl sieht er Handlungsbedarf. Im April haben sich das Ministerium Ländlicher Raum und der LJV auf eine gemeinsame Erklärung geeinigt. Sie besagt, dass die „Bejagung von wiederkäuendem Schalenwild (…) ein wichtiges Handlungsfeld“ ist, dass sie allein aber nicht zum Erfolg führen wird. „Waldbesitzer, Waldbewirtschafter, Jägerschaft und andere Akteure wie Naturschutz und Tourismus müssen für den Erhalt der Wälder im Land als gemeinsames Ziel Verantwortung übernehmen.“ So sollten Förster mit dem Anlegen von Bejagungsschneisen unterstützen, dennoch werden Experimente mit fremdländischen Baumarten angeregt. Der Ministeriumssprecher Jürgen Wippel stellt für die Zukunft klar: „Die Herausforderungen werden größer.“