Eine Studie zeigt, dass Religionskonflikte an Berliner Schulen ein großes Problem sind. Gilt das auch für Baden-Württemberg? Wir haben Experten dazu gefragt.

Berlin - Pädagogen und Sozialarbeiter berichten von alarmierenden Vorfällen an Schulen im Berliner Stadtteil Neukölln. Das förderte eine Studie des Verein Demokratie und Vielfalt (DEVI) zutage, die Ende Dezember veröffentlicht wurde. Eine pädagogische Mitarbeiterin erzählt darin: „Als türkische Frau kann ich im Sommer nicht mit einem kurzen Kleid auf der Straße laufen. Ich muss alle Ernstes darauf achten, was ich anziehe und wie ich gekleidet bin. Ich bin nicht so, dass ich sehr offen herumlaufe, aber trotzdem falle ich auf, weil ich kein Kopftuch trage.“

 

Doch es sind nicht die Kollegen oder in erster Linie die Eltern der Schüler, die sie mit diesem Verhalten konfrontieren – sondern die Schüler selbst. Zeichnet sich ein derartiger Trend auch in Baden-Württemberg ab?

In Neukölln gibt es viele Konflikte

Die Umfrage in zehn Neuköllner Schulen ergab, dass „konfrontative Religionsbekundung“ dort ein Problem ist. Gemeint sind damit Konflikte, die aufgrund der Religion entstehen, auch religiöses Mobbing zählt dazu. So komme es beispielsweise vor, dass Jugendliche ihren alevitischen Hintergrund verschwiegen, weil sie „Angst vor Abwertung und Diskriminierung“ vonseiten ihrer muslimischen Mitschüler hätten.

Dies komme häufig in Bildungseinrichtungen vor, in denen die Eltern eine „sehr konservative Islamauslegung vertreten“, heißt es in der Berliner Studie. Die Lehrer seien häufig mit derartigen Konflikten überfordert. Um dieses Problem auszugleichen, will der Bezirk Neukölln eine sogenannte Anlauf- und Dokumentationsstelle einrichten.

Aber wie ist es im Südwesten?

Sowohl die DEVI-Studie als auch das Vorhaben, eine Anlaufstelle zu gründen, sorgen für viel Kritik. So äußerte das Vereinsnetzwerk Neue Deutsche Organisationen (NDO) in einer Stellungnahme: „Das Vorhaben ist aus fachlich pädagogischer Perspektive in vielfacher Hinsicht problematisch“. Es drohe die Konflikte zu verschärfen. Auch in einer Diskussionsrunde, die der Mediendienst Integration organisiert hatte, wurde Kritik geübt. Zum einen müsse man die Ergebnisse der Studie richtig einordnen, so der Tenor. Zum anderen solle man eher die bestehenden Angebote für Schüler und Lehrer stärken, als gleich eine neue Stelle einzurichten.

Einer der Referenten in der Diskussion war Tobias Nolte. Seit 2013 unterrichtet er an der Rütli-Gemeinschaftsschule in Neukölln, mehr als 90 Prozent der Schülerinnen und Schüler haben dort einen Migrationshintergrund. „Als ich bei uns an die Schule kam, war es für mich neu, dass sich so viele Kids so stark über ihre Religionszugehörigkeit definieren“, sagte er.

Jugendliche interessieren sich für Religion

Das bedeute aber nicht, dass Religion auch zu Konflikten und Ausgrenzung führe. Zumindest habe Nolte von Konflikten dieser Art an der Schule noch nie mitbekommen. Daher könne er den Eindruck, der in der DEVI-Studie erweckt wird, nicht teilen. Was er jedoch festgestellt hat: „Ein sehr sehr großes Bedürfnis der Jugendlichen, sich über religiöse Themen auszutauschen und mit religiösen Themen zu beschäftigen.“ In dem Berliner Stadtteil sind vor allem die Armut vieler Familien und „massive Bildungsungerechtigkeit“ ein Problem, erklärt der Lehrer. „Um dem zu begegnen, brauchen wir vor allem kleinere Klassen und viel viel mehr Zeit für gute Beziehungsarbeit.“ Aus diesem Grund wurde an dem Campus der Zusatzkurs „Glauben und Zweifel“ eingeführt.

In der Schule gibt es

Im Südwesten sind religiöse Streitereien in Schulen kein verbreitetes Problem. Das bestätigt Nicola Heckner, die sich im Verband für Bildung und Erziehung Baden-Württemberg (VBE) um das Thema Religion kümmert. Antisemitismus sei an den Schulen im Land dagegen ein ernst zu nehmendes Thema. Das äußere sich in Form von rechtsextremen Kritzeleien auf Toiletten. Um bei den Schülern ein Bewusstsein für die verschiedenen Religionen zu schaffen, werde im Religionsunterricht darüber aufgeklärt, zudem wird die Zusatzqualifikation Interreligiöses Begegnungslernen angeboten.

Beim baden-württembergischen Kultusministerium bekommt man eine ähnliche Antwort. Seit 2018 sind die Schulen im Land nämlich verpflichtet, antisemitische und andere religiös diskriminierende Vorkommnisse zu melden. In Bezug auf die Vorkommnisse in Neukölln, sagte ein Sprecher: „Im Rahmen dieser Meldepflicht sind uns keine relevanten Vorfälle wie die geschilderten bekannt.“ Das Land setzt auf Fortbildungen, „denn Lehrkräfte fragen nach einem richtigen Umgang mit menschenverachtenden und demokratiefeindlichen Haltungen und entsprechend aufgeladenem Mobbing an Schulen.“

Jugendliche machen nicht Probleme, sie haben welche

Der Islam- und Sozialwissenschaftler Götz Nordbruch, der ebenfalls an der Diskussionsrunde teilnahm, unterstrich Noltes Position: „Es geht nicht nur darum wahrzunehmen, dass Jugendliche Probleme machen, sondern Jugendliche haben auch Probleme.“ Nordbruch arbeitet beim Berliner Verein UFUQ, der sich der Prävention und politischen Bildung zu den Themen Islam, Islamfeindlichkeit und Islamismus bei Jugendlichen widmet.

Sehr strenge Religionsvorstellungen könnten demnach eine Ausdrucksform sein, jedoch sollten an dieser Stelle die Hintergründe betrachtet werden. Der Wissenschaftler erklärt zudem, dass die Konflikte daher rühren, dass Menschen verschiedenster kultureller Hintergründe in den Schulen aufeinandertreffen. Nordbruch sagte: „Die Diversität, die wir im Klassenzimmer haben, führt zwangsläufig auch zu Konflikten. Und diese Konflikte müssen ausgehandelt werden.“ Sein Appell lautet deshalb, diese Konflikte wahrzunehmen und anzusprechen.