Stuttgart - Wer kennt sie nicht, diese Situation, in der auf einmal alles vergessen scheint, was gerade noch im Kopf war. Die Prüfung, in der einem vor Aufregung der Stoff entfällt. Der Stress im Büro, der einen wichtigen Geburtstag vergessen lässt. Oder das Bewerbungsgespräch, in dem die distanzierten Blicke der Personaler einen so sehr unter Druck setzen, dass man kaum noch souverän über die eigenen Stärken berichten kann.
„Eine solche Situation ist für viele Menschen der pure Stress“, sagt der Psychologe Oliver Wolf von der Ruhr-Universität Bochum. Er und sein Team untersuchen, wie sich dieser Stress bei Menschen auf deren Lernen und Vergessen auswirkt, denn dass es einen Zusammenhang gibt, zeigen die Alltagssituationen deutlich. Wie aber kommen solche Effekte zustande? Und lassen sie sich beeinflussen? Solche Fragen wollen die Bochumer Psychologen mit verschiedenen Experimenten beantworten. Das Vergessen durch Stress könnte zum Beispiel Menschen helfen, die ihre Furcht vor Spinnen oder großen Höhen loswerden wollen, denn auch die Entstehung und Behandlung solcher Ängste hat viel mit Lernen und Vergessen zu tun.
Nicht nur wirklich gefährliche Situationen verfestigen sich als Erinnerung im Gehirn
„Wenn eine Situation bedrohlich und emotional aufwühlend ist, merken wir uns ihre Details besonders gut“, erklärt Oliver Wolf. Das hat sich im Laufe der Evolution als sinnvoll erwiesen. Wer einmal einem gefährlichen Raubtier gegenübergestanden hat, sollte sich merken, wie er ihm entkommen ist. Ein Zusammenspiel von mehreren Stresshormonen ist in solchen Fällen die Ursache, dass sich die Erinnerungen besonders gut verfestigen. Zuerst tritt dabei das rasch ausgeschüttete Noradrenalin auf den Plan und meldet, dass die Situation furchteinflößend und damit wichtig ist. Das langsamer wirkende Cortisol bewirkt dann, dass diese Erkenntnis in einem Hippocampus genannten Bereich des Gehirns gespeichert wird.
Es sind aber nicht nur wirklich gefährliche Situationen, die in diesem Archiv der Bedrohungen landen. Die Begegnung mit einer Spinne zum Beispiel ist zumindest in Mitteleuropa normalerweise völlig harmlos. Trotzdem lösen diese Tiere bei etlichen Menschen Angst und Ekel, bei manchen sogar regelrechte Panik aus. Dahinter können verschiedene Ursachen stecken: Vielleicht haben sich die Betroffenen irgendwann einmal vor einem Achtbeiner erschrocken. Es kann auch genügen, dass man als Kind immer wieder mit dem Spinnen-Ekel anderer Leute konfrontiert wurde.
Doch man kann solche Ängste auch wieder loswerden. „Gerade bei Spinnenangst ist eine Konfrontationstherapie sehr erfolgversprechend“, sagt Oliver Wolf. Mit Unterstützung eines Therapeuten gelingt es vielen Betroffenen schon innerhalb eines Tages, sich den gefürchteten Monstern schrittweise immer weiter anzunähern, bis sie so ein Tier sogar anfassen oder über ihre Hand krabbeln lassen können.
In normalen Konfrontationstherapien zeigt sich: Das Verlernen von Ängsten ist an den Kontext gebunden
Das Problem ist allerdings, dass die Angst zurückkehren kann, denn durch die Therapie wird das einmal verinnerlichte Dogma „Spinnen sind bedrohlich“ nicht gelöscht, sondern steht vielmehr mit der neu erlernten Lektion im Wettstreit, die besagt: „Spinnen sind doch nicht gefährlich.“ Es könne durchaus passieren, dass die alte Furcht manchmal die Oberhand gewinne, sagt Oliver Wolf. Zumal das Verlernen von Angst stark an die jeweilige Situation gebunden ist. So kommt es vor, dass ein Patient mit einer Spinne in der Psychotherapiepraxis gar keine Probleme mehr hat. Wenn er dann aber eine in seinem eigenen Keller findet, ist das Entsetzen wieder da.
Deshalb suchen Psychologen nach Möglichkeiten, die guten Ergebnisse von Konfrontationstherapien noch weiter zu verbessern. Dabei könnte es helfen, die Patienten vor ihrer Behandlung ein wenig unter Stress zu setzen. Die Bochumer Forscher haben nämlich herausgefunden, dass das Verlernen von Ängsten dann unabhängig vom aktuellen Kontext erfolgt.
In einem Experiment haben sie den Teilnehmern Bilder von einem Büro mit einer Schreibtischlampe gezeigt. Leuchtete diese in Rot, bekamen die Probanden einen unangenehmen elektrischen Reiz auf der Haut zu spüren. Messungen zeigten, dass sie nach einigen Durchgängen schon ängstlich auf die Farbe reagierten, bevor sie einen Reiz spürten. Sie hatten gelernt, Rot mit einem negativen Erlebnis zu verbinden. Am nächsten Tag musste sich die Hälfte der Teilnehmer zunächst einer stressigen Situation aussetzen: Sie sollten ihre Hände in Eiswasser tauchen. Anschließend bekamen alle Probanden Fotos der gleichen Lampe gezeigt, die nun aber in einer Bibliothek stand. Diesmal passierte bei rotem Licht nichts.
Am dritten Tag wechselten sich Lampen-Bilder aus Bibliothek und Büro ab, wieder ohne negative Erlebnisse für die Betrachter.
Stress kann das Verlernen von Ängsten fördern – die neue Information wird dann besser verinnerlicht
Die Ergebnisse des Experiments fielen je nach Stresslevel der Teilnehmer unterschiedlich aus. Zwar lernten alle am zweiten Tag, dass rotes Licht in der Bibliothek nicht gefährlich war. Nur die gestresste Gruppe aber konnte diese Erkenntnis auch auf den ursprünglich angstauslösenden Büro-Kontext übertragen.
„In diesem Versuch haben wir deutlich gesehen, dass Stress das Verlernen von Ängsten fördern kann“, sagt Oliver Wolf. Dahinter steckt vermutlich eine Kombination aus zwei Effekten. Zum einen verinnerlichen die Gestressten die neue Information „Rot ist doch nicht gefährlich“ besser. Zum anderen können sie – ähnlich wie beim Prüfungs-Blackout – nicht mehr so gut auf früher Gelerntes zurückgreifen. In diesem Fall also auf ihre alte Rot-Angst.
Die Forscher sind optimistisch, dass ihre Erkenntnisse bei der Behandlung von Angstpatienten helfen können. Ein Team um Dominique de Quervain von der Universität Basel hat gezeigt, dass eine vor einer Konfrontationstherapie geschluckte Cortisol-Tablette bei Menschen mit Spinnen- oder Höhenangst zu einem besseren Therapieerfolg führt. Allerdings kann eine solche Hormonbehandlung Nebenwirkungen haben. „Wir denken aber, dass man einen solchen Erfolg auch ohne Hormongabe erreichen kann, wenn man die Patienten vor der Behandlung unter Stress setzt“, sagt Oliver Wolf. Dazu sei der Griff ins Eiswasser wohl gut geeignet. Noch nicht getestet haben die Forscher, ob auch Sport zu ähnlichen Effekten führen kann. Schließlich treibt körperliche Aktivität das Stresshormonlevel in die Höhe.