Konkurrenz um Verkehrsflächen Fußgängerlobby fordert viel mehr Stuttgarter Rechtecke

Der Protoyp des Stuttgarter Rechtecks in der Schlossstraße – noch fehlt es an Nachfolgern. Foto: Ju/Rettig

Das Ringen zwischen Verkehrsteilnehmern, Anwohnern und Gewerbetreibenden um ihren Platz im öffentlichen Raum ist heftig wie nie zuvor. Welche Rolle können da Miniflächen mit Multifunktion spielen?

Stuttgart - Alle wollen in Stuttgart zurzeit etwas vom Straßenraum und vom Gehweg abbekommen: Verkehrsteilnehmer, Anwohner, Gewerbetreibende. Veronika Kienzle, Bezirksvorsteherin in Stuttgart-Mitte, sagt sogar: „Es gibt im öffentlichen Raum in der Stadt so großen Nutzungsdruck wie niemals zuvor.“ Und die „Stuttgarter Rechtecke“ sind so etwas wie Symbole der diversen Nutzungsinteressen – und des Versuches, die Nutzungen zu versöhnen. Die Initiative Fuss e. V., eine Lobby der Fußgänger, fordert nun ihren konsequenten Ausbau.

 

Was sind Stuttgarter Rechtecke?

Es sind kleine Flecken, den Autoparkplätzen abgetrotzt und jeweils zwei mal sechs Meter groß. Genutzt werden können sie beispielsweise für Fahrradständer, Parkscheinautomaten, da und dort für Ladesäulen, Werbeständer, Sitzgelegenheiten und womöglich auch für etwas Grün. Die Rechtecke sind der Versuch, die Gehwege für komfortables Gehen ohne Hindernisse freizuhalten, Möblierung jedweder Art in Richtung Straße zu verlagern, ohne aber über ganze Straßenfluchten hinweg den Autos und Radfahrern zuviel Platz abzunehmen.

Wie will die Initiative Fuss e. V. damit verfahren?

Peter Erben, Sprecher der Initiative in Stuttgart, forderte im Gespräch mit unserer Zeitung, der Gemeinderat solle bei den beginnenden Haushaltsberatungen jeweils zehn Rechtecke in jedem der 23 Stadtbezirke finanzieren. Ein Rechteck kostet rund 10 000 Euro, 230 Rechtecke verschlingen 2,3 Millionen Euro. Dem Verband geht es um ein machtvolles Zeichen. Am Ende wäre es auch in Ordnung, sagte Erben, wenn im einen Bezirk weniger Rechtecke entstehen, im anderen mehr. Das Linksbündnis im Gemeinderat beantragte inzwischen aktuell je 20 Rechtecke in den Innenstadtbezirken, Bad Cannstatt und Vaihingen, je fünf in den übrigen Außenbezirken.

Was hat die Stadtverwaltung mit den Rechtecken vor?

Sie plante bisher anders. „Die Errichtung von Rechtecken in den Außenbezirken ist derzeit noch nicht angedacht“, erklärte sie jetzt. Vielmehr sollten die Rechtecke bisher nur in Innenstadtbezirken entstehen, vorwiegend an Hauptfußwegen und Flanierrouten. Insgesamt habe man bisher 13 mögliche Standorte in den Bezirken Mitte, Süd und Nord identifiziert. In einem ersten Paket hatte man sich zehn Rechtecke vorgenommen. Als im Mai das erste in der Schlossstraße im Stuttgarter Westen übergeben wurde, war gar von jährlich zehn Rechtecken die Rede. Doch bisher ist es bei dem einen im Westen geblieben – und bei zwei Vorschlägen im Stuttgarter Süden: auf Höhe der Gebäude Möhringer Straße 95 und Böblinger Straße 33.

Wie reagierte die Kommunalpolitik?

Der Bezirksbeirat Süd tat sich erst einmal schwer, fühlte sich überrumpelt. Am Ende werde sowieso niemand auf dem Rechteck sitzen, hieß es, und zur Verlagerung eines Stromverteilungskastens brauche man so ein Rechteck auch nicht. Am Dienstag stimmte man dann doch zu. Die Rathaus-CDU erklärte jüngst in einer Debatte: Früher sei man als Passant auch mal ausgewichen oder habe gewartet, bis jemand mit dem Kinderwagen vorbei ging, um dann auf dem Gehweg weiterzugehen. Das öko-soziale Lager andererseits ist an einer besser begehbaren Stadt sehr interessiert und versucht die diversen Bausteine mit Nachdruck zu forcieren.

Wie sieht die die Förderung des Fußverkehrs überhaupt aus?

Sie fußt auf dem Fußverkehrskonzept von 2017, das auf die Innenstadtbezirke zugeschnitten ist. Dort ist ein Netz von 14 Hauptfußwegen und 16 Flanierrouten vorgesehen, die man mit rund 30 Maßnahmen Schritt für Schritt errichten und ausbauen will. Erst jüngst berichtete die Verwaltung den Stadträten von „Fortschritten für den Fußverkehr“ und bei der Arbeit am großen Ziel: noch mehr Menschen dazu zu bewegen, zu Fuß an ihr Ziel zu gelangen oder die Stadt zu erkunden. Zurzeit erarbeite man auch Konzepte für die Bezirke Untertürkheim, Bad Cannstatt, Zuffenhausen, Möhringen und Vaihingen sowie für den Stadtteil Kaltental.

Warum gibt es neuerdings Zielkonflikte?

Im Grundsatz geht es um gut begehbare, breite und hindernisfreie Gehrouten. Doch Susanne Scherz vom Ordnungsamt sagt, die Bevölkerung gestalte zunehmend den Raum vor den Haustüren. Gut gemeinte, aber ungenehmigte Möbel und Pflanzkübel könnten die öffentlichen Räume in ungewollter Weise beeinträchtigen. Daher rät das Amt dringend zu einer Anfrage im Rathaus, ehe man etwas auf den Gehweg stellt. Zum Anderen lotet es zurzeit mit den Bezirksvorstehern aus, „ob und mit welchen Spielregeln auf Gehwegen private Möblierungen ermöglicht werden oder ob Gehwege eher von zusätzlicher Möblierung freigehalten werden sollen“.

Wie wird die Rolle der Verwaltung eingeschätzt?

Der Fuss e. V. und Peter Erben schätzen gut begehbare Gehwege, finden aber, die Selbstdarstellung der Verwaltung als Hüterin der Gehwege und die Realität „passen nicht zusammen“. Gegen illegale Parker setzte das Amt die Straßenverkehrsordnung leider nicht durch. Die Überwachung des ruhenden Verkehrs sei ungenügend. Die Verwaltung habe auch selbst Parkticketautomaten, Luftfilteranlagen und Ladesäulen auf Gehwegen installiert und den Fußgängern Wege verbaut. In der Verwaltung gebe es fortschrittliche, denen man dringend den Rücken stärken müsse. Dass vier Jahre nach der Herausgabe des Fußverkehrskonzepts gerade mal ein Stuttgarter Rechteck existiere, spreche Bände. Auch das Linksbündnis im Gemeinderat merkte jüngst an, in der Verwaltung gebe es unterschiedliche Ansätze.

Wie geht die Verwaltung mit der Kritik um?

Susanne Scherz, die Leiterin der Straßenverkehrsabteilung, beteuerte im Ausschuss für Stadtentwicklung, von den zuständigen Abteilungen im Rathaus komme eine „integrierte Planung“.

30 Maßnahmen sollen umgesetzt werden

Grundlage
Das Fußverkehrskonzept von 2017 deckt die Innenstadtbezirke ab. Rund 30 Maßnahmen sollen Schritt für Schritt realisiert werden, wozu auch die Verbesserung der Stuttgarter Stäffele und der Querungen zählen, Standorte für Bäume und kleinere Platzgestaltungen.

Geldbedarf
Für das Gesamtkonzept der Fußgängerförderung steht seit dem Stadthaushalt 2018/2019 Geld bereit: 6,4 Millionen Euro. Wenn im zweiten Quartal das Fußverkehrskonzept fortgeschrieben und um erste Außenbezirke erweitert ist, will die Verwaltung den weiteren Geldbedarf im städtischen Doppelhaushalt 2024/2025 klären. Ihr Ziel: ein Investitionsprogramm „in ähnlichem Umfang fortzuschreiben“.

Strategie Vor Jahren gab es in Stuttgart ein Reallabor für nachhaltige Mobilitätskultur, gefördert von Land und Bund. Seither setzt man – Stichwort tactical urbanism – auf kostengünstige temporäre Lösungen und Versuche.

Elemente Die Aufteilung und Möblierung des öffentlichen Raums und die Schaffung von Aufenthaltsqualität hatten in Stuttgart in den vergangenen Jahren viele Gesichter. Auf dem Hospitalplatz wurden blaue Stühle eingeführt, die man beliebig positionieren kann. Eine Wanderbaumallee – Pflanzen in Kübeln und Holzkästen – wird flexibel an verschiedenen Stellen zum Einsatz gebracht. An sogenannten Parklets werden vorübergehend Stellplätze zu Aufenthaltsorten für Menschen umfunktioniert. Zuletzt neu auf der Agenda: ein sogenannter Superblock in Anlehnung an Barcelona. Er wurde während der Mobilitätswoche im September in der Augustenstraße in Stuttgart-West getestet. Da gab es nicht nur temporäre Umnutzung von Straßenfläche; es wurden zehn Wohnblöcke zu einem Superblock zusammengefasst und die Verkehrsführung geändert. Fußgänger und Radfahrer hatten Vorfahrt. In dieser Richtung soll es auch weitergehen bei der Verkehrspolitik.

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