Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

Aber auch sonst hasst Alexandrine Kantor die Unsicherheit, in der sie schwebt – wie die meisten EU-Bürger auf der Insel. „Ich habe keine Familie hier. Ich bin hierhergekommen, weil ich mir im Vereinigten Königreich ein besseres Leben, bessere Berufsaussichten erhofft habe.“ Die junge Forscherin liebt ihren Job. Für die Finanzierung ihrer Wohnung hat sie eine Hypothek aufgenommen. Angesichts der aktuellen Lage weiß sie nicht, ob sie die Hypothek behalten kann oder ob sie wieder ausziehen muss. „Und was passiert jetzt als Nächstes mit mir?“

 

Auch dass sie nun nicht mehr ohne Weiteres planen kann, zum Beispiel die Gründung einer Familie in England, empfindet Alexandrine Kantor als bedrückend. Nach den Vorstellungen der britischen Regierung muss sie fünf Jahre praktisch ununterbrochen im Land gelebt haben, um sich für eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung zu qualifizieren. Bisher kommt sie nur auf drei Jahre. Was aber werde in den nächsten zwei Jahren geschehen? „Werde ich das Land noch verlassen können, um nach meinem Vater in Straßburg zu sehen? Wird er denn noch hierherkommen können, wenn Großbritannien die EU verlässt?“

Angriffe gegen die größte Einwanderergruppe

Ein erhebliches Maß an Entfremdung hat die Unklarheit geschaffen – das beobachtet Joanna Mludzinska, die Direktorin des Polnischen Zentrums in Hammersmith, einem Stadtteil im Westen Londons. Als größte europäische Einwanderergruppe haben die fast 900 000 Polen auf der Insel in der Folge des Referendums mit den übelsten Attacken zu kämpfen: Gehässige Kommentare, tätliche Angriffe mussten sie erdulden. Flugblätter mit der Aufschrift „Haut ab, ihr polnisches Ungeziefer“ wurden durch Briefkastenschlitze geschoben. Die Fassade des Polnischen Zentrums wurde mit hässlichen Graffiti-Bildern beschmiert.

Joanna Mludzinska erinnert sich sehr wohl an diese „betrüblichen Dinge“ – streicht aber auch die Solidaritätsbekundungen vieler Briten zu jener Zeit heraus. Umso problematischer ist es heute für sie, dass noch immer keine Lösung gefunden worden ist für EU-Bürger in Britannien, dass noch immer „solche Unklarheit herrscht“. In einer zunehmend gespaltenen britischen Gesellschaft fühlten sich manche Polen nicht mehr zu Hause. Es sei wohl wahr, dass in den vergangenen Monaten mehr ihrer Landsleute Großbritannien verlassen hätten und weniger als früher auf die Insel zögen.