Die Göppinger Wilhelmshilfe hat zu Jahresbeginn ihr Angebot in der ambulanten und in der stationären Pflege reduziert, um den Druck auf die Beschäftigten zu verringern. Das Risiko war hoch, ist aber belohnt worden.

Region: Andreas Pflüger (eas)

Göppingen - Als die Göppinger Wilhelmshilfe vor einigen Monaten in der ambulanten Pflege einen Aufnahmestopp vollzog und im stationären Bereich einzelne Zimmer in den Wohnbereichen nicht mehr belegte, um Druck von den Beschäftigten zu nehmen, erregte das reichlich Aufsehen. Nach einem Bericht unserer Zeitung wurden nicht nur andere Medien wie etwa das SWR-Fernsehen oder die Fachpresse bei der größten Altenhilfeeinrichtung im Stauferkreis vorstellig, sondern auch die Politik von der Kreis- bis zur Bundesebene.

 

Das Risiko, diesen ungewöhnlichen Schritt zu wagen und damit in die Öffentlichkeit zu gehen, hat sich aber offensichtlich gelohnt. „Zum einen haben wir aus allen Richtungen fast nur positive Rückmeldungen bekommen, sei es von unseren Mitarbeitern, von unseren Kunden oder von deren Angehörigen“, erklärt Matthias Bär. Er leitet zusammen mit seiner Kollegin Dagmar Hennings die Geschäfte der Wilhelmshilfe. Zum anderen habe sich, erstaunlicherweise aufgrund der Offensive, die Personalsituation wieder ein wenig entspannt, fügt er hinzu.

So konnten die ambulant versorgten Kli-enten, die vorübergehend von der Göppinger Diakoniestation übernommen worden waren, zum 1. April wieder komplett zurückgeholt werden. Abgesprungen sei von den Leuten niemand, zeigt sich Bär erleichtert. Ebenso wurden die leer stehenden Zimmer in den Altenheimen in Süßen und Göppingen nach und nach wieder belegt.

So viele Bewerbungen wie lange nicht mehr

Was auf den ersten Blick paradox klingen mag, ergibt bei genauem Hinsehen Sinn. „Zum einen haben unsere Beschäftigten gesehen, dass wir ihre Situation ernst nehmen. Zum anderen haben neue Interessenten bei uns angeklopft, weil wir anscheinend vermitteln konnten, dass wir ihnen Verlässlichkeit bieten können und die vorherrschenden Probleme wirklich angehen“, vermutet der Vorstandsvorsitzende der Wilhelmshilfe. Die Zahlen jedenfalls sprächen eine deutliche Sprache, ergänzt Dagmar Hennings: „Wir hatten im ersten Quartal 2018 mehr Bewerbungen von Fachkräften als im gesamten vergangenen Jahr.“ Zudem hätten sich etliche Aushilfen, die im Hauptberuf vorher noch anderswo beschäftigt gewesen seien, für eine Festanstellung entschieden.

Dass all dies unter dem Strich für die Altenpflege im Landkreis Göppingen und darüber hinaus keine Lösung darstellt, räumt Matthias Bär derweil unumwunden ein. „Auch wenn sich bei uns die Situation jetzt ein wenig entspannt hat, schaffen wir natürlich einen Mangel bei jemand anderem.“ Der Pflegenotstand sei also noch längst nicht aufgehoben, weshalb eine politische Unterstützung, ganz gleich auf welcher Ebene, nach wie vor unerlässlich sei, stellt er klar. „Den Signalen, die vonseiten des Landkreises ebenso gekommen sind wie von der frisch gekürten Pflegebeauftragten der SPD-Bundestagsfraktion, der Göppinger Abgeordneten Heike Baehrens, müssen nun rasch Taten folgen.“

Hennings: Wir werden die Situation bei uns weiterhin genau beobachten

Dagmar Hennings sind Absichtserklärungen ebenfalls zu wenig: „Im Koalitionsvertrag steht viel Positives und Richtiges. Der große Wurf ist das aber trotzdem nicht, weil sich keiner traut, die Pflegeversicherung wirklich zu reformieren.“ Ihr Kollege Bär, der die Ankündigungen schon gar nicht mehr hört, führt nur ein Beispiel an: „Da will der Gesundheitsminister 8000 neue Stellen schaffen. Aber schon jetzt können die vorhandenen nicht besetzt werden. Das passt nicht zusammen.“

Für die Verantwortlichen bei der Wilhelmshilfe ist deshalb klar, dass sie ihre Philosophie weiter verfolgen. So gibt es künftig im ambulanten Bereich keine geteilten Dienste mehr. Auch Überstunden der Beschäftigten kommen, ambulant wie stationär, auf den Index. Umgesetzt werden zudem die gemeinsam mit der Belegschaft entwickelten Maßnahmen, die sich aus einer Mitarbeiterbefragung ergeben haben. So soll es hochindividuelle Angebote zur Gesundheitsförderung geben, gezielte Teambuilding-Programme und Schulungen für die Führungskräfte auf allen Ebenen. Zudem organisieren Bär und Hennings eine zeitlich erweiterte und verlässliche Betreuung für die Kinder der Beschäftigten. Außerdem soll bis zum Herbst eine neue Stelle geschaffen werden, um gezielt die Bereiche Nachwuchsgewinnung, Ausbildung und Weiterbildung abzudecken.

„Wir lehnen uns jetzt nicht zurück, sondern beobachten die Situation in unserem Hause weiterhin sehr genau, um gegebenenfalls sofort wieder reagieren zu können“, verspricht die für das Personal verantwortliche Hennings. Denn die Belastungen des Berufs würden zweifellos hoch bleiben und könnten sich erst dann ein wenig verbessern, wenn sich flächendeckend und dauerhaft etwas verändere.