Das Stuttgarter Musikfest ist am Wochenende in die Stadt ausgeschwärmt: mit betörenden Konzerten in Uhlbach und – pünktlich zum Sonnenaufgang – in der Berger Kirche.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Es ist am Freitagabend ungewöhnlich voll im Bus der Linie 62 von Obertürkheim hinauf ins beschauliche Uhlbach. Klar, welcher vernünftige Mensch wird zu dieser Veranstaltung mit dem Auto anreisen? „Konzerte zum Wein“ lautet das Motto am zweiten Tag des Stuttgarter Musikfests: sozusagen ein abendlicher Betriebsausflug der Konzertgemeinde hinaus an den Stadtrand, dorthin, wo die alten Dorfstraßen direkt in die Weinberge führen und wo an diesem Abend die Internationale Bachakademie an drei verschiedenen Orten zu jeder Stunde ein kleines Konzert bietet, während die örtlichen Wengerter ihre Tropfen zum Verkosten bereithalten.

 

Die Sommeliers des Weinbaumuseums und des Collegiums Wirtemberg lassen sich an diesem Abend nicht lumpen. Fünf feine Tropfen bekommt der Besucher nach und nach gereicht, beim Einschenken wird auch keineswegs gegeizt, und so wird es auf den kleinen Straßen von Uhlbach nicht nur langsam dunkel, sondern auch zusehends fidel, während die etwa 350 Besucher von Konzert zu Konzert wandeln. Wohlgemerkt: es wird fidel, keineswegs fatal. Wein und Kultur, das passt halt besser zusammen als, sagen wir mal, Bier und Kultur.

Aufs Klavier trommeln, an Saiten zerren

Doch mindestens so sehr wie der Gaumen werden die Ohren der Besucher gereizt. Im Weinbaumuseum, in der Kelter des Collegiums und in der kleinen Andreaskirche erwartet die Besucher wunderbare Musik, die sich noch bei jeder Runde durch die Intimität des jeweiligen Rahmens zu drei intensiven Künstlerbegegnungen auswächst. Im Museum spielen der Cellist Valentin Radutiu und der Pianist Per Rundberg Kompositionen aus dem Geburtsland des Weins, also aus dem Kaukasus. Das viertelstündige Werk „Habil-Sayagy“ der zeitgenössischen aserbaidschanischen Komponistin Franghiz Ali-Zadeh fällt unter die Kategorie Neue Musik, dergestalt, dass darin aufs Klavier getrommelt und an den Saiten gezerrt wird: Die beiden Musiker geben alles. Die Zuhörer sind völlig aus dem Häuschen – und das liegt keineswegs nur an dem fein-fruchtigen Muskateller, den sie dazu genießen durften.

Noch einen Tick euphorischer jubelt das Publikum den vier coolen Jungs und der flotten jungen Dame von Spark zu. Das Crossover-Quintett spielt mit Cello, Klavier, Violine und Flöten einen wilden Mix aus Klassik und Moderne, Balkanbeats und Filmmusik. Das ist so virtuos, frisch und mitreißend, dass es die Leute auf Dauer kaum auf den Bänken der Andreaskirche hält. Ganz anders dagegen die Atmosphäre in der Uhlbacher Kelter – die unglaublichen Künste des israelischen Mandolinenspielers Avi Avital führen in der fantastischen Akustik des Steingewölbes das Publikum noch einmal zu höchster Konzentration. Seine Version der Chaconne aus Bachs Partita d-Moll ist zum Weinen schön. Überall entspannte, beseelte Gesichter.

Und so entspannt geht es beim Musikfest wenige Stunden später weiter. Wer glaubt, es reiche, zum „Sonnenaufgangskonzert“ pünktlich um sieben Uhr früh in der Berger Kirche anzutreten, der muss schon etwas länger nach einer Sitzgelegenheit suchen – voller Saal. Meditativ ist die Stimmung, wenn das Quartett namens John Dowland Concept die rund 400 Jahre alten Lieder des Engländers zum Anlass nimmt, mit Saxofon, Trommel, Gitarre und Cello immer scharf an der Grenze zwischen Alter Musik und Jazz zu wandeln. Die Sopranistin Sarah Maria Sun von den Neuen Vocalsolisten verleiht diesem Konzert eine flirrende Grundstimmung – und wie auf Bestellung geht irgendwann im Lauf der knappen Stunde tatsächlich auch jenseits des mittleren Altarfensters die Sonne auf. Keine Frage, das ist alles sehr schön.