In Stuttgart und der Region war musikalisch ordentlich was los: Bob Dylan war in Bad Mergentheim, die Ärzte in der Schleyerhalle – und dann gab es noch die Jazz-Open.

Stuttgart - Wer regelmäßig Konzerte von Bob Dylan besucht, entwickelt unweigerlich eine Leidenschaft für das Fährtenlesen: Warum legt der 71-Jährige im Schlosshof von Bad Mergentheim seinen für gewöhnlich unverzichtbaren Hut auf die Hutablage, als er die Bühne betritt? Warum setzt er ihn erst bei Song Nummer 14 auf, einer diabolisch-düsteren, mit dem ausnahmsweise zur Stimme geschalteten Echo vollends ins Apokalyptische kippenden, grandiosen Version von „Ballad of a thin Man“? Warum rammt er ein experimentelles Jazzpiano-Solo in „Highway 61 revisited“ und eines der Honky-Tonk-Gattung in „The Levee’s gonna break“? Und warum reist er seit Neuestem überhaupt mit einem Konzertflügel, wo er ihn doch nicht wesentlich verschwenderischer spielt als seine viel handlicheren Mundharmonikas, auf denen er die Geheimnisse des Überlebenskampfes zuweilen schlüssig mit zwei verschiedenen Noten erklärt.

 

Antwortversuche auf Fragen dieser Art werden seit einem halben Jahrhundert mit viel Bedeutsamkeit aufgeladen, wo doch die naheliegendste Antwort lautet: Weil Dylan Lust drauf hat. In Bad Mergentheim hat er vor allem Lust auf Klavier, viel Klavier, lautes, angeschrägtes Saloon-Klavier. Und so schwer es fällt, sich einen besseren Songwriter als Bob Dylan vorzustellen, so leicht fallen einem doch ein paar versiertere Pianisten ein. Und Dylans Stimme klingt mittlerweile nach einem kraftvoll röchelnden Zwischending aus einem betagten Traktor am Berg und einer waidwunden Raubkatze.

Bob Dylan, der Weise mit der Wundertüte

Und was macht Dylan daraus? Eine Offenbarung, wieder mal. Weil sich diese sagenhaft ausdrucksstarke Stimme mit bewegender Selbstverständlichkeit in die Musik seiner fantastischen Band fläzt und sie dann wieder rüde zerhackt. Weil wieder mal alles neu ist: die Hutlosigkeit, das Klavier, die Arrangements, der Sound, der Fokus. Der Weise mit der Wundertüte, der längst aufgehört hat, nach den endgültigen Versionen seiner Songs zu suchen, zerschreddert „Tangled up in Blue“ und macht so eines seiner bedeutendsten Lieder zum Soundtrack einer hinreißenden Crooner-Comedy. In „Desolation Row“ klimpert er kinderliedhaft und spuckt die Zeile, die besagt, dass jemand den Tod als „ziemlich romantisch“ empfinde, fast höhnisch ins Mikrofon. Im zurückgenommen liebkosten „Sugar Baby“, im umso explosiver herausgefauchten „High Water“, und im dämonisch gedehnten „Love sick“ gelingen ihm Momentaufnahmen für die Ewigkeit, die er bald wieder zerfetzen und übermalen wird.

Bob Dylan zelebriert in Bad Mergentheim knapp zwei Stunden lang lustvolles und entdeckungsfreudiges Songrecycling auf allerhöchstem Niveau. Null Nostalgie, hundert Prozent heute. Sogar in „Blowin’ in the Wind“, der Zugabe, während der er den Flügel verlässt, zur Bühnenmitte spaziert und dort mit der Mundharmonika die Erwartungen martert, denen er sich seit einem halben Jahrhundert virtuos entzieht. Bob Dylans Musik schneidet ins Fleisch. Nicht immer noch, sondern immer mehr. Wow!

Bei den Stuttgarter Jazz-Open wird ebenfalls viel geboten

Weich und Hart, Balladen und Tempostücke, etwas R&B und etwas Nu Soul: Jill Scott macht das am dritten Tag des Festivals „Jazz Open“ mit ihrer Musik auf dem Schlossplatz nicht schlecht, aber auch nicht so, dass da etwas zu verpassen gewesen wäre. Sie hat Grammys, Erfolg und ein paar funky Rhythmen. Es ist dies moderne Musik mit ein paar hübsch arrangierten Auf- und Abgeregtheiten. Geht so.

Doch dann Melody Gardot, die im eher altmodischen Bar- und Nachtclubjazz zu vermuten wäre. Die Amerikanerin hatte einst einen schweren Unfall, bei dem sie erhebliche Kopf- und Beckenverletzungen erlitt. Seither ist sie auf einen Stock beim Gehen und auf eine dunkle Brille angewiesen, um sich vor zu starker Lichteinwirkung zu schützen. Sie macht Musik, die aus dem Schmerz kommt. Lasziv, sinnlich, und gut phrasiert, sie spielt Klavier und Gitarre. Acht Jahre ist ihr Unfall her. Für ihre neuen Songs ist sie um die Welt gereist, hat versucht, deren Einflüsse aufzunehmen. „Es gibt so viele Sprachen und so viele Kulturen, aber es ist doch immer wieder erstaunlich, wie ähnlich sich die Musiken der ganzen Welt im Geiste sind.“ Das hat sie gesagt und auch in diesem Geist ihr neues Album aufgenommen.

bei Melody Gardot funkeln die Stücke

Doch jetzt tritt sie ganz alleine vor ihr Publikum und gibt sich einen Rhythmus, über dem sie sich in ihren Auftritt leicht gospelgetönt hineinsingt. Zart, fordernd, scharf, weich, erotisch – behutsam auslotend, tastend aus sich schöpfend, eine Verbindung mit dem Publikum suchend. Dann tritt ihre achtköpfige Band hinzu, und es entwickelt sich ein in vielen musikalischen Farben schillerndes Konzert, das nur sie durch ihre Präsenz zusammenhält. Manchmal ist es so, dass sie hier auf der Bühne die Bewegungsfreiheit zu haben scheint, um ihre Stücke unter einem anderen, die emotionalen Konturen stärker betonenden Lichte funkeln zu lassen.

„Goodbye“ etwa ist zu Tönen geronnene Abschiedsmelancholie, die in vieldeutig jazzigen Tönen badet, zu denen sie selbst auch pointierte Klavierlinien beisteuert. Den zweiten Vokal in diesem Titelwort tremoliert sie so, dass es nicht zu viel und nicht zu wenig ist. Sie ist in diesem Moment die balancierende Hochseilartistin. So etwas kommt durch zum Publikum und schafft Verbindung.

Sie greift sich auch die elektrische Gitarre und lässt sich hineinfallen in Songs, die den Nachtclubrahmen deutlich verlassen, um den leichtfüßigen Bossa in ein schwermütiges Lied zu überführen, das bei ihrem Aufenthalt in Lissabon entstanden sein könnte. Der Sanftheit gibt sie Konturen und der Abwesenheit eine Präsenz, sie holt alles aus sich heraus, um es vor ihrem Publikum bis hin zum abschließenden „Somewhere over the Rainbow“ auszubreiten. Melody Gardot ist in kurzer Zeit ein hell strahlender Stern geworden, nicht nur im Jazz, sondern überall dort, wo Menschen zuhören können.

George Benson musiziert mit meisterlicher Routine

Beim Anstehen ums Pausenbier vor dem Auftritt von George Benson brachte es ein Schlossplatz-Besucher am Freitagabend auf den Punkt: Nur wegen Keb’ Mo’ wäre er nicht gekommen, da brauchte es schon noch ein Sahnehäubchen obendrauf. Und genau diese Funktion erfüllte George Benson mit meisterlicher Routine. Im Grunde gilt: ein George-Benson-Konzert ist ein George-Benson-Konzert ist ein George-Benson-Konzert.

Seit der technisch perfekte Gitarrist seine elegante Musik Mitte der siebziger Jahre kommerziell discofizierte, ist der Mann ein Planet von eigenen Gnaden, der überraschungslos und ohne jeden Bezug zur Musik der Gegenwart in einem Paralleluniversum seine Bahnen zieht. Das Publikum liebt ihn dafür. Das Set beginnt perfekt mit „Breezin’“ und endet perfekt mit „Give me the Night“, dazwischen wandelt der Künstler dramaturgisch stets auf dem schmalen Grad zwischen künstlerischem Ausverkauf und dem virtuosen Geniestreich.

In den peinlichsten Momenten der gefallsüchtigen Hinwendung zum Dudelfunk-Mainstream, wenn Bläsersätze und Backgroundsängerinnen synthetisch aus den Keyboards abgerufen werden, könnten Benson und seine Mitstreiter problemlos als Bordkapelle auf dem Traumschiff anheuern. Doch immer wieder erhebt der Jazz sein mattes Haupt, fordert auch vom Sänger Benson etwas Respekt, allein schon im Hinblick auf seine eigene Biografie, auf die Zeit vor 1976.

Eine Michael-Jackson-Hommage gibt es auch

So folgt dann auf Entgleisungen wie „At the Mambo Inn“ folgerichtig ein inniges „Nature Boy“ als Wiedergutmachung, werden stumpfe Gassenhauer wie „Lady love me one more Time“ mit technisch brillanten Soli verziert. Man kann dem Mann der kalkulierten Geschmacksunsicherheit einfach nicht böse sein, weil er auf der Geschmacksunsicherheit seines Publikums sein Süppchen kocht.

Wenn sich Benson mit „Lady in my Life“ schließlich an eine instrumentale Michael-Jackson-Hommage wagt, dann nicht ohne zuvor darauf hinzuweisen, dass das Stück wochenlang die Charts einschlägiger Jazz-Radiostationen toppte – und dann gelingt ein windelweiches Stück Musik mit einer derart Atem beraubenden Perfektion, dass man glücklich ist, diesen Moment miterlebt zu haben. So ist ein Konzert von George Benson eine zuverlässige Dienstleistung mit genügend Momenten zum Zungenschnalzen: „Give me the Night“ ist nahe dran am perfekten Popsong und „On Broadway“ beendet die Zugaben, ist die „Doggy Bag“ für den Nachhauseweg.

Musikalisch ungleich interessanter, ja im besten Sinne aufregend unaufgeregt war zuvor das Konzert der „perpetual Blues Machine“ Keb’ Mo’ ausgefallen, der ein nahezu perfektes Set mit viel Abwechslung und Zwischentönen präsentierte. Grooviger Blues-Rock mit Pop- und Soul-Momenten von höchster Spielkultur und immer mal wieder erinnernd an die großen Konzerte, die Van Morrison um 1980 zu geben pflegte. Eine auf unspektakuläre Weise spektakuläre Darbietung, die ein Kommen auch gelohnt hätte, wäre nicht George Benson nachgefolgt. Aber so kamen ungleich mehr Menschen in den Genuss eines hinreißenden Keb’ Mo’-Konzerts.

Zwei Konzerte mit den Ärzten

Stan und Olli, Yoko und John, Delling und Netzer, Old Shatterhand und Winnetou, Angelina und Brad tauchen da unter anderem auf den großen Bildschirmen auf, während Rodrigo Gonzáles den Song „1/2 Lovesong“ mit der Akustikgitarre nölt. Die Ärzte sind halt frech, in vielem was sie auf der Bühne tun. Und sie können es vermarkten. Als Image. Seit dreißig Jahren. Die beiden Konzerte in der Stuttgarter Schleyerhalle sind seit Wochen mit 25000 Besuchern ausverkauft.

Die Ärzte sind ein Phänomen in der deutschen Popmusik. Originale, von denen es dort inzwischen immer weniger gibt. Bela B. alias Dirk Felsenheimer wird bald ein Fünfziger, sieht aber zwanzig Jahre jünger aus. Der Mann bedient das Standschlagzeug, redet viel und rennt oft auf der Bühne herum. Sein Partner Farin Urlaub alias Jan Ulrich Max Vetter an der Gitarre wird ihm altersmäßig bald folgen und trägt jetzt eine andere Frisur, nachdem ihm seit Ewigkeiten ein zerzauster Blondhaarschopf ein Markenzeichen war. Gonzáles spielt normalerweise den Bass und ist putzig.

Die Ärzte sind die Ärzte, irgendetwas, das einmal mit Punkrock angefangen hat. Hohn, Spott und flotte Sprüche. Sie standen schon auf dem Index, was letztlich eine tolle Werbung war. Umbesetzung, Auflösung, Auszeiten: alles hat ihnen mehr genützt, als es ihnen geschadet hat. Sie nennen sich ja auch selbstironisch „Die beste Band der Welt“. Seit Ewigkeiten.

„Ist das noch Punkrock?“

Die ersten drei Songs in der Schleyerhalle spielen sie jetzt genauso wie auf ihrem neuen Album herunter. Die Tournee heißt „Das Ende ist noch nicht vorbei“. „Ist das noch Punkrock?“ ist das Auftaktlied. Am Ende heißt es „Ist das noch Punkrock – ich glaube nicht“. Das ist Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Chaotischer Humor. Nach diesen drei Songs scheinen sie oft zu improvisieren, auszubrechen aus dem Korsett der starren Abfolgen, aus allem und jedem, sie formen aus dem Augenblick heraus ihre Sprüche und treiben allerlei Schabernack.

Da wächst etwa die Bassanlage zunehmend in Richtung einer Horizontalen und gibt ein Gartenlaubenfeeling. Sie wird doch nicht umfallen? Nicht doch. „Es gibt so viel zu sehen, es gibt doch so viel zu lernen, hast du nichts Besseres zu tun als die Ärzte zu hören?“, heißt es im Song „Zeidverschwändung“. Die Ärzte-Fans haben erklärtermaßen nichts Besseres zu tun und machen jede Ärzte-Spezial-Version einer La-Ola mit. Es gehört hier zum Ritual. Einem standardmäßigen „Seid ihr alle gut drauf?“ folgt ein „ . . . oder geht’s euch so mittel? Ihr könnt es ruhig zugeben!“. Ganze drei Stunden lang dauert das Rasen und Toben. Sie können ihre Instrumente inzwischen richtig gut spielen. Auch unter absurden Verkleidungen und seltsamen Maskierungen. Langweilig ist das nie. So kann das noch eine Weile weitergehen.