„Mit Zwölf brauchte ich keine Aufklärung mehr“, sagt Alfred Wieland heute. Zunächst war er in einem Internat fernab, sein Vater holte ihn in die Heimat. „Heute würde man wohl sagen, ich wäre ein ADS-Kind“, sagt Wieland, also mit Aufmerksamkeitsdefizitstörung. 1960, als Neunjähriger, kam er ins Hoffmannhaus, bis 1965 war er dort. Er ging in Korntal zur Schule, verbrachte dort die Nachmittage, abends ging er nach Hause. Es habe „sehr nette Lehrer“ gegeben. Und dann war da ein Ehepaar – sie arbeitete in der Wäscherei, er war Schweizer – „das waren goldige Leute“. Er fühlte sich behütet. Dazu kam irgendwann die jugendliche Neugier, die aufkeimende Lust.

 

Die übergriffige Aufmerksamkeit, die der Hausmeister ihm zuteil werden ließ, tat ihm gut. „Ob im Lehrerbad, im Heizungs- oder Fahrradkeller: der Hausmeister hatte ja für alles einen Schlüssel.“ Brutal war es auch, dennoch sagt Wieland: „Ich habe den Missbrauch nicht als solchen empfunden. Woher sollte ich wissen, ob es Unrecht oder Recht ist?“ Der Missbrauch sei ihm „in die Seele eingepflanzt“ worden, der sich entwickelt habe zu einer „unermesslichen fleischfressenden Pflanze, über die man immer wieder hinweggehen muss.“

Schläge mit dem heißen Kleiderbügel kassierte sie routinemäßig am Abend. „Das war ein Ritual, so wie andere eine Gutenachtgeschichte vorgelesen bekommen“, sagt Martina Poferl heute. Dem Schlafraum gegenüber lag der Waschraum, der Holzbügel wurde unter heißem Wasser erhitzt, dann setzte es Schläge auf den Rücken. „Der Rücken war grün, blau, gelb, aber das hat man ja nicht gesehen“, sagt die heute 52-Jährige. Sie lebte von 1965 bis 1984 im Flattichhaus. Eine strenge Schwester sei dort gewesen, bis sie selbst 13 war. Sie forderte die Schüler, es wurde nur gelernt: „Spielen und Kindsein war einfach nicht.“

Als sie Zwölf, 13 war, war die strenge Schwester plötzlich weg. Es folgte eine Übergangszeit, in der sich keiner so richtig verantwortlich gefühlt habe für das Leben im Haus. Jedenfalls war es zwei Jungs mehrfach möglich, das Mädchen unter der Dusche zu vergewaltigen. „Jeder hatte seine Duschzeit, und die Dusche war so klein, dass man nicht ausweichen konnte. Abschließen konnte man nicht.“ Nach rund einem Dreivierteljahr kam eine neue Erzieherin in das Haus. Sie war sehr nett, schlug nie. „Aber ich hab’ nicht gewusst, was Sache ist. Ich konnte damit nicht umgehen.“

Die Erinnerung setzt am Abend aus

„Stellt euch nicht so an. Er schläft nur.“ Mit dieser Aufforderung sollten sich die Zöglinge von dem im zweiten Stock aufgebahrten Jungen verabschieden, das ist dem Mann bis heute in Erinnerung. Die Kinder hatten den Film „Serengeti darf nicht sterben“ angeschaut, als der Freund, der Kamerad, der Junge tot umkippte. Der Film wurde unterbrochen, der Junge in ein anderes Zimmer gebracht und aufgebahrt. Dort mussten sich die anderen, inzwischen hatten sie sich entsprechend fein kleiden müssen, dann von ihm verabschieden.

Von 1955 bis 1964 lebte der heute 66-Jährige im Hoffmannhaus. Zum Leben im Heim gehörte die Mithilfe auf dem Feld. Wer sein Pensum nicht schaffte, dem habe Essensentzug gedroht; wer ein Setzling beim Pflanzen zerstörte, bekam Prügel. Ganz anders der Hausmeister, der imponierte dem Jungen, der ohne Vater aufwuchs. „Der Mann war stark, er war tätowiert und er konnte Fußball spielen.“ Dass dieser ihn dann im Keller missbrauchte, habe er nicht als Gewalt wahrgenommen, sagt der Mann heute. Als er acht war, durfte er am Wochenende zu einem Ehepaar. Seine Mutter, die zu dieser Zeit trotzdem noch das Sorgerecht für ihn hatte, habe laut noch existierender Unterlagen ihr Einverständnis erteilt, berichtet der Mann. Die Paten erlaubten ihm, bei ihnen ins Bett zu schlüpfen. Letztlich aber habe ihn die Frau dazu aufgefordert, sie zu befriedigen. Danach setzt seine Erinnerung aus.

Ein anderes Mal sei er übers Wochenende bei einem jungen Mann in Feuerbach gewesen, der in einem von einem großen Park umgebenen Haus lebte. „Wir haben super feudal gegessen“, zu trinken habe es gar Bananenmilch gegeben. Am Abend ließ sich der Junge im Bad – „ein schönes Bad, alles war weiß“ – duschen. Anschließend cremte ihn der Mann am ganzen Körper ein. Kurz danach setzt die Erinnerung erneut aus.

Der rote Traktor als Lockvogel

Sie konnten reiten, hatten ein Schwimmbad, bekamen Gitarrenunterricht. Und welches Kind würde nicht mit einem Traktor fahren wollen? Auch der Sechsjährige war begeistert, als der Hausmeister ihm anbot, auf dem roten Traktor mitzufahren. Der Junge durfte auch ans Steuer und lenken, dazu saß er auf dem Schoß des Mannes. „Er hat mich dann betatscht und befummelt und hat versucht, in mich einzudringen. Ich habe Schmerzen gehabt und geweint, dann hat er von mir abgelassen“, erzählt der heute 54-Jährige. Danach bekam der Junge Süßigkeiten: „Gummibärchen hat es immer gegeben.“ Drei- bis viermal im Monat nahm der Mann den Jungen mit zu sich nach Hause. „Dann durfte ich in der Badewanne baden. Das war für uns etwas Besonderes. Aber immer mit ihm zusammen. Ich musste ihn streicheln, Handlungen an ihm vornehmen. Ich habe nie hingeschaut, ich habe es über mich ergehen lassen.“ Der Junge wusste, dass er in de Situation nicht allein war: „Wenn ich nicht dran war, war ein anderer dran.“ Und doch konnte er sich niemandem anvertrauen. „Es hätte mir niemand geglaubt.“ In den Ferien habe er später schuften müssen, er musste das Dach decken des Privathauses, das sich der Heimleiter baute.

1966, im Alter von drei, war er nach Korntal gekommen. 13 Jahre hat er dort gelebt. Die Kinder waren zu viert im Zimmer. Wenn er abends im Bett weinte, legte sich manchmal ein älterer Junge zu ihm, um ihn zu trösten. „Das war okay, er hatte ja dasselbe erlebt“, berichtet der Mann. Die Übergriffe hörten auf, als er acht oder neun war. Mit zwölf wurde er dann für andere Zwecke herangezogen. Als Zivis fehlten, wählte der Heimleiter ihn aus, mittags die Essensbehälter aus der Zentralküche zu holen. Der Junge verließ nun eine Stunde eher die Schule – den Unterricht versäumte er; niemand holte den Stoff mit ihm nach.

An Gitterbett festgebunden

„Ihr Hurenkinder. Ihr Hurenkinder.“ War es eine Nonne, die immer wieder zu ihr und ihrer Schwester in das Zimmer kam und sie so barsch anredete? Sie weiß es nicht, sie erinnert sich nur an die Kopfbedeckung. Nur wenige Monate war sie im Jahr 1969 im Hoffmannhaus in Korntal, damals war sie vier Jahre alt. Doch das blieb der heute 52-Jährigen in Erinnerung. „Wir wurden nie beim Namen genannt. Niemand hat uns die Backe gestreichelt oder die Hand gehalten.“ Mitleid habe es nicht gegeben. Vielmehr sei ihr immer wieder auf den Brustkorb geschlagen worden.

Eine andere Erinnerung: „Ich wurde mit Karottenbrei gefüttert“, erzählt die Frau. „Ich mochte ihn nicht riechen und nicht schmecken. Ich habe ihn immer wieder ausgespuckt. Dann wurde er mir wieder mit einem großen Löffel reingestopft.“

Und dann war da noch ein junger Mann. War es ein Mitarbeiter, ein Jugendlicher des Heims? Auch das weiß sie nicht. Vor ihr und ihrer Schwester ließ er seine Hose runter. Die Geschwister waren zusammen in einem Zimmer, am Ende eines langen Ganges. Ob noch weitere Kinder im Zimmer waren, weiß sie nicht. Selten haben sie es verlassen: „Wir waren die meiste Zeit im Gitterbett angebunden. Nackt.“ Vorher seien sie ganz normale Kinder gewesen, dort aber waren sie still. „Wie kann man aufgeweckte Mädels so still halten? Das geht nur mit Tabletten, oder?“

Die jugendliche Neugier benutzt

„Mit Zwölf brauchte ich keine Aufklärung mehr“, sagt Alfred Wieland heute. Zunächst war er in einem Internat fernab, sein Vater holte ihn in die Heimat. „Heute würde man wohl sagen, ich wäre ein ADS-Kind“, sagt Wieland, also mit Aufmerksamkeitsdefizitstörung. 1960, als Neunjähriger, kam er ins Hoffmannhaus, bis 1965 war er dort. Er ging in Korntal zur Schule, verbrachte dort die Nachmittage, abends ging er nach Hause. Es habe „sehr nette Lehrer“ gegeben. Und dann war da ein Ehepaar – sie arbeitete in der Wäscherei, er war Schweizer – „das waren goldige Leute“. Er fühlte sich behütet. Dazu kam irgendwann die jugendliche Neugier, die aufkeimende Lust.

Die übergriffige Aufmerksamkeit, die der Hausmeister ihm zuteil werden ließ, tat ihm gut. „Ob im Lehrerbad, im Heizungs- oder Fahrradkeller: der Hausmeister hatte ja für alles einen Schlüssel.“ Brutal war es auch, dennoch sagt Wieland: „Ich habe den Missbrauch nicht als solchen empfunden. Woher sollte ich wissen, ob es Unrecht oder Recht ist?“ Der Missbrauch sei ihm „in die Seele eingepflanzt“ worden, der sich entwickelt habe zu einer „unermesslichen fleischfressenden Pflanze, über die man immer wieder hinweggehen muss.“