Die Kosten und der Zeitbedarf für die Neuordnung des Bahnknotens Stuttgart steigen erneut. Nun ist von bis zu acht Milliarden Euro die Rede. Die Misere trifft alle Projektpartner.
Stuttgart - Das Bahnprojekt Stuttgart 21 wird erneut teurer: nach Papieren für den Aufsichtsrat des Bahn-Konzerns wohl um eine, samt neuem Puffer um bis zu 1,5 Milliarden Euro. Dann wäre der achtgleisige Durchgangsbahnhof samt (Tunnel-)Strecken bis Wendlingen bei rund acht Milliarden Euro angelangt – und damit nicht mehr weit entfernt von den Horrorzahlen der Projektgegner und des Bundesrechnungshofes, die um die neun bis zehn Milliarden Euro kreisen. Die Gegner fordern die Ausstiegsdiskussion.
Wirklich überraschend kommt die Nachricht vom neuen Finanzierungsloch nicht. Auch die nicht, dass nun frühestens Ende 2024 die Signale in der neuen Station auf Grün springen können. Das trifft vor allem die Stadt Stuttgart, die beim Wohnungsbau endlich in die Offensive kommen will.
Pofalla geht auf Distanz
Bahn-Infrastrukturvorstand Ronald Pofalla hatte die Projektpartner Ende Oktober bei der jüngsten Sitzung des politisch besetzten Lenkungskreises auf schlechte Nachrichten vorbereitet, als er von dramatisch gestiegenen Baupreisen und in der Folge von nicht ins Budget passenden Ausschreibungsergebnissen berichtete. Zudem heißt es bei der Bahn, der Markt sei satt, die Zahl der abgegebenen Angebote gehe signifikant zurück. Auch bei bereits vergebenen Aufträgen muss die Bahn nochmals draufsatteln.
Pofalla, der frühere Kanzleramtsminister von Angela Merkel, reagierte schnell, gab Gutachten für den Aufsichtsrat in Auftrag und stellt eines klar: „Ich beabsichtige nicht, zu Unteraspekten des Projekts Stellung zu beziehen.“ Für die Unteraspekte, also für die ganze Misere, sei nicht er, Pofalla, verantwortlich – so die Botschaft. Verantwortlich seien andere Manager, zuvorderst jene an der Spitze der Projektgesellschaft in Stuttgart. Manfred Leger führt sie seit September 2013. Leger verkündete 2015 selbstbewusst, „alles pünktlich 2021 fertig“ zu haben. „Warten Sie ab, wie schnell wir hier werden“, sagte der Wirtschaftsingenieur keck in einem Interview.
Doch statt einer Beschleunigung gab es neue Hemmnisse, statt eines klaren Vorgehens erneute Planänderungen an zentralen Punkten, zum Beispiel im Hauptbahnhof bei den bereits genehmigten Rettungswegen. Auf die Genehmigung wartet die Projektgesellschaft noch immer. Manfred Leger feiert im Februar 2018 seinen 64. Geburtstag. Zum Projektende 2024 wäre er 70. Gut möglich, dass sich seine Ablösung mit den neuesten Katastrophenmeldungen beschleunigt.
Projektgesellschaft auf Tauchstation
Der Projektchef selbst war am Mittwoch zu einer Stellungnahme nicht bereit. Die S-21-Pressestelle veröffentlichte um 12.32 Uhr, als die Meldungen über die Mehrkostenmisere längst durchs Netz schossen, eine Mitteilung zur bald wieder geänderten Wegeführung im Mittleren Schlossgarten. Man gehe den nächsten Bauabschnitt an, erste „für Passanten wahrnehmbare Arbeiten“ begännen am Donnerstag.
Kein Wort zu den Milliarden-Mehrkosten, kein Wort zum Zeitverzug, kein Wort zu den neuen Abwegen, auf denen sich Stuttgart 21 befindet. Auf Anfrage sagte ein Sprecher um 15 Uhr, es gebe Termin- und Kostenrisiken, deshalb die externe gutachterliche Bewertung, die dem Aufsichtsrat am 13. Dezember vorgestellt werde. „Dem Aufsichtsrat wollen und können wir nicht vorgreifen“, so der Sprecher. Zur persönlichen Planung des Herrn Leger äußere man sich nicht.
Weiterbauen oder abbrechen?
Dem Aufsichtsrat dürfte die Entscheidung, weitere Milliarden zuzuschießen, nicht leichtfallen. Dazu solle es eine Sondersitzung im Januar 2018 geben. Bei 6,8 Milliarden Euro sei die Grenze der Wirtschaftlichkeit absolut erreicht, hieß es bisher. Noch mehr Geld könnten die Bahn-Kontrolleure daher nicht geben. Sie müssen Projektabbruch und Weiterbau abwägen.
Neu überdacht und geplant werden müssen angesichts der Entwicklung die Ideen der Landeshauptstadt für das neue Rosenstein-Stadtquartier an Stelle der bisherigen Gleise; für das geplante Kulturquartier gegenüber dem alten Bonatz-Bahnhofsbau; für die Metropolexpress-Linien des Landes, die den neuen Durchgangsbahnhof nutzen sollen; für den Anschluss des Landesflughafens; für die Nutzung der Neubaustrecke nach Ulm, die ja nun bis zu drei Jahre vor Stuttgart 21 fertig werden könnte. Es ist ein dickes Paket, das der Lenkungskreis mit Landes-Verkehrsminister Winfried Hermann, OB Fritz Kuhn (beide Grüne), den Vertretern der Region und des Flughafens noch vor Weihnachten auf den Tisch bekommen wird.
Stadt wartet auf Wohnbaufläche
Im neuen Rosensteinquartier will die Stadt mindestens 7500 Wohnungen bauen. Dazu soll 2018 ein internationaler städtebaulicher Ideenwettbewerb stattfinden. Ob der zu diesem Zeitpunkt sinnvoll ist, muss der Gemeinderat überdenken. Vor 2027 wird nicht gebaut werden können, und da könnten Ideen aus dem Jahr 2018 ziemlich überholt sein. Gleise, Schotter, Fundamente und Altlasten im Untergrund müssen nach dem Abzug der Bahn abgeräumt, das Gelände muss modelliert werden. Das dauert Jahre, der Wohnungsbau auch. Die Internationale Bauausstellung 2027 wird hier nicht stattfinden können.
Genauso betroffen ist das Kulturquartier mit der vom OB gewünschten Konzert- und Kongresshalle und vielleicht einem Ersatz für das in die Jahre gekommene Linden-Museum. Das Ensemble soll den markanten Auftakt für den Stadtteil hinter dem Bahnhof geben. Der dafür geplante Wettbewerb hat nun keine Eile mehr.
Der Streit um die Verteilung der Mehrkosten schwelt weiter
Umso dringlicher sind Überlegungen, wie die Neubaustrecke nach Ulm zunächst ohne Stuttgart 21 genutzt und Teile des Verkehrs zur Entlastung des Filstals darauf gelenkt werden kann. Das Land muss prüfen, wie ein Metropolexpress zur Entlastung der S-Bahn ohne Stuttgart 21 organisiert werden kann.
Dringlich aus Sicht der Bahn ist die Debatte, wie der Landesflughafen kostengünstiger ins S-21-System findet. Sein Anschluss ist genehmigt. Nach dem Treffen des Bahn-Aufsichtsrates werde es darüber Gespräche geben, versichert ein Projektsprecher.
Unverändert bleibt der Rechtsstreit der Bahn mit den Partnern um die geforderte unendliche Mehrkosten-Mitzahlungspflicht. Aus zwei werden drei oder mehr Milliarden Euro. Kaum vorstellbar, dass sich ein Gericht schon 2018 damit befassen will.