Schrill, glamourös, verrucht: Die Leidenschaft der Natur treibt bunte Blüten. Beim Kostümball der Staatsoper Stuttgart, einem herausragenden Event im Studio Amore, wird die Artenvielfalt und die Lust an der Fantasie in einer heißen Nacht gefeiert.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Ein Nachtfalter, der verführerisch seine Flügel schwingt, ein Waldpilz, der seinen Fruchtkörper leuchten lässt, ein Dinosaurier, der sich so lange in Ekstase tanzt, bis die Haut platzt und die pure Erotik herausbricht: Beim Kostümball der Staatsoper Stuttgart, die als Teil des Frühjahrsfestivals das Motto „Come, be mother nature’s bitch!“ zum Kostümieren aufruft, wird der erste Stock des Studios Amore, also im früheren Hotel am Schlossgarten, zu einem Reich der Mischwesen, der Fantasiegestalten, der Dragqueens – und damit auch zum Reich der Lust, die Diversität in ihrer vollen Schönheit auszuleben. So bunt ist Stuttgart!

 

Die Kostüme sind eine Verneigung vor der Artenvielfalt der Natur

Um die Mutter Natur geht es in dieser Nacht also, auch um die Bitch, die dazugehört, die, wenn man sie mit Miststück übersetzt, noch nicht vollständig erklärt ist. Die Staatsoper ist schon immer eine Bühne, die nach Kostümen verlangt, um die Welt wenigstens ein bisschen zu verstehen. Beim mitternächtlichen Amore-Ball Furioso ist das Verkleiden ein Ausdruck von Lebensfreude – und auch ein Ausdruck von Liebe, die nicht immer nur gleichförmig nach dem klassischen Mann-Frau-Prinzip erblüht.

Verführerisch führt Franz-Erdmann Meyer-Herder, Dramaturg der Staatsoper, als Flametta Marjolaine Sauvage in wechselnden Outfits durch eine großartige Show, wie sie selbst Party-Stuttgart nicht so oft erlebt. Die Artenvielfalt lebe hoch! Mögen Auswärtige denken, die Stadt sei beim Hervorbringen von Spießern führend in Deutschland. Die starke andere Seite lässt sich in dieser coolen Nacht bewundern. Es ist eine Reise in die Fantasie mit sehr aufwendigen und kunstvoll erdachten Kostümen – in eine Natur, die mit bunter Vielfalt noch zu retten ist.

Was für ein Jubel herrscht, da die neun Teilnehmenden am Kostümwettbewerb durch die Gasse des häufig ebenfalls verkleideten Publikums schreiten, hüpfen, sich auf den Boden schmeißen, Glitter werfen, Gäste küssen, die Fülle ihres Körpers lieben! DJane Gaisma legt dazu auf, heizt ein und bringt mit heißer Musik also noch mehr zum Kochen. In der Jury sitzen unter anderem die Dragqueen Reflektra, die in der hochgelobten Inszenierung von Dvořáks „Rusalka“ im Stuttgarter Opernhaus die Hauptrolle gespielt hat, sowie die Sopranistin Josefin Feiler, die als Susanna („Le nozze di Figaro“), als Gretel („Hänsel und Gretel“) und als Micaëla („Carmen“) zu erleben ist. Siegerin des Kostümwettbewerbs wird Emily Island.

Staatssekretär Arne Braun will rasches Ja der Stadt für eine Außengastro der Oper

Kunststaatssekretär Arne Braun (Grüne) kommt direkt von der Premiere von Shakespeares „Sturm“ aus dem nahen Schauspielhaus und fühlt sich im engen Partytreiben mit so viel schrillen Nachtvögeln sichtlich wohl. Wenigstens mit der Außenterrasse des Studios Amore am Schlossgarten habe es geklappt. Dass es auf der anderen Seite bei der Oper klemmt, wo man ebenfalls gastronomisch ins Freie drängt, ärgert ihn sehr. „Wenn wir es schon mit ein paar Stühlen und Tischen zur Bewirtung nicht schaffen, wie sollen wir dann die Sanierung des gesamten Hauses hinbekommen?“, fragt er. Jetzt komme es auf eine rasche Entscheidung der Rathausspitze an. Für die Belebung und Aufwertung des Eckensees sei dies sehr wichtig – also an einem Ort, an dem sich viele abends nicht mehr hintrauen.

„Diskriminierung spür ich nicht – warum auch?“

Dragqueen Veronica Mont Royal fühlt sich wohl in Stuttgart, wie sie sagt: „Diskriminierung spür ich nicht – warum auch?“ Opernintendant Viktor Schoner trägt mit dazu bei, den liberalen Geist zu fördern. Er ist bekannt dafür, sein Haus immer wieder für Neues zu öffnen, wie bei „Rusalka“, einer Inszenierung, die weit in die Stadtgesellschaft hinein gewirkt, also nicht nur das übliche Opernpublikum erfreut hat. Die Märchenoper um die Meerjungfrau, die sich in einen Menschen verliebt und mit anderen Geschöpfen der Wasserwelt in einen Strudel der Identitäten gerät, weil Liebe und Sex so viele Facetten haben, löste rundum Hymnen aus von Kritikerinnen, Kritikern – und allen, die dazwischen sind.

Die Diversität ist der Star des Abends

Aus der Verpflichtung von fünf Dragqueens und einem Dragking, die ihre Lippen synchron zu den „echten“ Sängerinnen der Staatsoper bewegten, ist der erste Kostümball im vergangenen Jahr hervorgegangen. Die zweite Auflage, nunmehr zum Thema Natur im Studio Amore, sorgt für noch mehr Zulauf. Es ist heiß, eng und stickig – die Diversität ist der Star des Abends. „In Stuttgart kann man eben feiern“, sagt ein Gast. Wenn es in dieser Stadt Nacht wird, treibt die Fantasie gar wunderschöne Blüten.