Das Gesundheitswesen ist in einer schwierigen Lage. Die Krankenhäuser sind besonders unter Druck. Wie im Brennglas zeigt sich dies in den Notaufnahmen.

Lokales: Mathias Bury (ury)

Yves Oberländer macht einen Test. Zur Demonstration der Lage in der Notfallversorgung der Stuttgarter Krankenhäuser schaut er an diesem Vormittag mal schnell in seinen Computer und kontrolliert, welche Krankenhäuser derzeit für Notfallpatienten aufnahmebereit und welche abgemeldet sind. „Aktuell sind alle Intensivstationen abgemeldet“, sagt der Ärztliche Direktor der Klinik für Notfallmedizin im Marienhospital. „Das ist eine Momentaufnahme“, erklärt er einschränkend. „Aber das war in den vergangenen Wochen sehr häufig so. Kein Krankenhaus war für Notfallpatienten durchgängig voll aufnahmefähig.“

 

Die Arbeit in den Notaufnahmen ist seit jeher von Wellen, von Aufs und Abs beim Zugang von Patienten geprägt. Inzwischen hat sich die Lage aber deutlich verschärft. „Das habe ich noch nie erlebt, dass alle so am Kämpfen sind, um die Versorgung aufrechterhalten zu können“, sagt Oberländer.

Viele Patienten mit Bagatellproblemen

Das beschriebene Problem hat zwei Seiten. Die eine: der starke Zufluss von Patienten in die Notaufnahmen. Die andere: der geringe Abstrom von dort in die Kliniken.

Der Zugang von Patienten steigt seit Längerem, ist derzeit aber so stark wie lange nicht. „Wir werden immens in Anspruch genommen“, sagt Mark Dominik Alscher, der Medizinische Geschäftsführer des Robert-Bosch-Krankenhauses. Im September habe man „so viele Notfälle gehabt wie seit 25 Jahren nicht mehr“. Man sei „auf Rekordniveau“, erklärt auch Jan Steffen Jürgensen, der Medizinische Vorstand des städtischen Klinikums. Dort verzeichne man in der Interdisziplinären Notaufnahme etwa das Anderthalbfache an Patienten wie sonst. Diese Entwicklung, über die alle Krankenhäuser nicht nur in Stuttgart klagen, hat mehrere Ursachen. Viele haben keinen Hausarzt, andere finden auch keinen, so sie einen suchen. Manche gehen auch lieber in die Notaufnahme, wenn es ihnen zeitlich gut passt. Man sei häufig „mit Bagatellen konfrontiert“, sagt Oberländer. Von „Fehlinanspruchnahme“ spricht Jürgensen. Die Häuser nennen Prozentsätze von 40 bis 60 Prozent der Patienten, die nicht in die Notaufnahme gehörten.

Defizite in der ambulanten Versorgung

„Vieles könnte ambulant behandelt werden“, sagt Stephan Rauscher, Chefarzt der Notaufnahme im Diakonie-Klinikum. Mal ist der Hausarzt im Urlaub, mal ist er überlastet und hat keine Zeit. Nicht wenige Patienten würden vom niedergelassenen Arzt geschickt, stellen die Häuser fest.

Deutlich sprechen die Verantwortlichen über Defizite in der ambulanten Versorgung. Es gebe „Lücken in der ambulanten Struktur“, erklärt Jan Steffen Jürgensen. Der Generationswechsel bei den Hausärzten wirke sich aus, ebenso der Personalmangel. „Praxen ohne Nachfolger schließen“, sagt Yves Oberländer. Stephan Rauscher ist überzeugt, dass die Kliniknotaufnahmen auch darunter leiden, dass die Kassenärztliche Vereinigung (KV) im Land aus dem gemeinsamen Notfallsystem ausgestiegen ist. Seit Januar organisiert die KV den ärztlichen Notdienst der Niedergelassenen unter der Servicenummer 116 117 selbst. „Die wird nicht ausreichend genutzt“, sagt Jan Steffen Jürgensen.

Hunderte Betten sind nicht in Betrieb

Das erhöht die Einsatzzahlen im Rettungsdienst und die Arbeit in den Notaufnahmen. Zuvor wurde auch der ärztliche Notdienst von den Disponenten der Rettungsleitstelle koordiniert. Das sorgte für Ausgleich. „Wir hatten mal ein tolles System in Stuttgart – das hat funktioniert“, sagt Stephan Rauscher.

Als Hauptproblem aber erweist sich derzeit die Unterbringung der tatsächlichen Notfallpatienten in den Krankenhäusern selbst. Dort fehlt es an Personal, der Krankenstand ist hoch. Mitarbeiter fallen aus wegen Corona oder wegen anderer Krankheiten, nach mehr als zwei Jahren Pandemie sind viele ausgelaugt. Auf zehn Prozent und mehr Beschäftigte müssen die Häuser mitunter verzichten. Ganze Stationen können deshalb nicht betrieben werden. „Im großen Stil sind Betten geschlossen“, sagt einer. Betroffen sind praktisch alle Häuser. Hunderte von Betten sind alleine in Stuttgarter Kliniken deshalb nicht in Betrieb. In der Region sieht es nicht anders aus.

Weniger Häuser in der Notfallversorgung

Gleichzeitig hat der ohnehin große wirtschaftliche Druck in den Krankenhäusern noch zugenommen und mit der Energiekrise durch den Ukraine-Krieg eine neue Dimension erreicht. Mehr denn je befinden sich die Kliniken im Spannungsfeld von medizinischen Notwendigkeiten und ökonomischen Zwängen. Die richtige Balance zu halten zwischen elektiven, planbaren Eingriffen, mit denen insbesondere das Geld verdient wird, und den Erfordernissen der Notfallversorgung ist noch schwieriger geworden. In Stuttgart kommt hinzu, dass einige Häuser sich inzwischen nicht mehr oder in deutlich geringerem Umfang an der Notfallversorgung beteiligen. So hat die Neuordnung des Karl-Olga-Krankenhauses (KOK) und der Bethesda-Klinik, die zum privaten Sana-Konzern gehören, dazu geführt, dass letztere nicht mehr und das KOK nur noch wenig dazu beiträgt. Der Anteil des zum städtischen Klinikum gehörenden Krankenhauses Bad Cannstatt hat in der Notfallversorgung abgenommen, seit es dort keine Unfallchirurgie mehr gebe, sagt Stephan Rauscher. Insgesamt habe man „weniger Anfahradressen“.

Es bleibt viel Zeit auf der Straße

Diese komplizierte Gemengelage vermindert insgesamt die Aufnahmefähigkeit der Krankenhäuser. Die Suchläufe des Rettungsdienstes nach Notfallbetten werden länger. „Nicht selten“ müsse ein Patient etwa mit einem Herzinfarkt in einen Nachbarkreis gefahren werden, sagt Yves Oberländer. In der umgekehrten Richtung ist das genauso. „Die drücken auch bei uns rein“, erzählt Stephan Rauscher. „Es bleibt viel Zeit auf der Straße“, beschreibt Jan Steffen Jürgensen eine der Folgen.

„Die Lage ist prekär“, betont Notfallmediziner Oberländer. „Es muss etwas passieren, sonst ist die Versorgung nicht mehr gewährleistet.“ Mit dieser Einschätzung steht er nicht alleine. Nur: Was tun? Für Oberländer ist zuallererst „eine offene Kommunikation“ über die Problemlage nötig.