Auch andere Politiker und Prominente geraten ins Visier des Tugendterrors – meint unsere Kolumnistin Sibylle Krause-Burger.

Stuttgart - Kaum war er als Kandidat für das erste Amt im Staate aufgestellt, da flogen schon die Giftpfeile. Die Phalanx der Gerechten und Selbstgerechten, der politisch Tadellosen und Tugendsamen schoss sich auf Joachim Gauck ein. Er schätze nur die Freiheit, hieß es, der Gleichheit und Gerechtigkeit hingegen zolle er nicht ausreichend Tribut.

 

Mit den Armen habe er kein Erbarmen, die ach so heroische Occupy-Bewegung nenne er albern, den schrecklichen Thilo Sarrazin hingegen lobe er, und, was am schwersten wiegt: er verharmlose den Holocaust, sehe die Vernichtung der Juden im Dritten Reich nicht als ein singuläres, sondern nur als eines unter anderen Verbrechen in der Geschichte der Welt an. Abscheulich.

Das alles ist an den Haaren herbeigezogen, mit Hilfe einzelner Worte aus Texten zusammengeklaubt, also nur scheinbar belegt und völliger Quatsch. Erfunden haben es Gaucks zahlreiche Gegner: die Abgehängten aus der Bürgerrechtsbewegung, die einen Dritten Weg zwischen DDR und Bundesrepublik anstrebten und seine Begeisterung für das Grundgesetz nicht teilen.

Ganz und gar nicht normal ist die Hysterie in Gesellschaft und Medien

Zu den Feinden des ehemaligen Chefs der Stasiunterlagen-Behörde zählen natürlich auch die alten SED-Kader in der neuen Partei der Linken samt ihren Westfreunden, die ihn alle miteinander für einen knochenharten Konservativen halten. So weit, so normal. Schon Goethe wusste: sollen dich die Dohlen nicht umschrei ’n, musst nicht Knopf auf dem Kirchturm sein.

Ganz und gar nicht normal aber ist das nachgerade hysterische Echo in der Gesellschaft und in den Medien, wenn Politiker oder Prominente an eines unserer Tabuthemen rühren. Ein Stichwort genügt, und sofort rauscht Empörung auf. Du sagst zum Beispiel, Sarrazin habe Mut bewiesen, und auf der Stelle bist du zusammen mit dem inkriminierten Autor auf der Abschussliste.

Dabei bedeutet doch die Verneigung vor dem Mut keinesfalls, dass man dem als mutig Gepriesenen auch in allen Punkten recht gebe. Oder: die Skepsis gegenüber den Occupy-Begeisterten, die Banken besetzen wollen. Ein Sakrileg! Denn Banken sind des Teufels, der Kapitalismus ist des Teufels, und wer anderer Ansicht ist, kann auch kein Gottesmann sein. So einfach ist das, obwohl keiner weiß, wie es ohne Banken gehen soll und was passiert, wenn man sie besetzt.

Im Visier des Tugendterrors

Ganz abgesehen davon, dass es sich im Nichtkapitalismus, mit Banken, die keine waren, und mit Geld, für das man nichts kaufen konnte, auch nicht so furchtbar lustig lebte. Doch wer will so weit denken, wenn es einen hübschen Anlass für die wohltuenden Erregungen im Sinne politischer Korrektheit gibt?

 Es ist absurd, dem ehemaligen Pastor, langjährigen Chef der Stasiunterlagen-Behörde, Vorsitzenden des Vereins Gegen Vergessen – Für Demokratie, diesem so zuwendungsfähigen Menschen, soziale Kälte, Geschichtsvergessenheit oder Fremdenfeindlichkeit vorzuwerfen. Aber symptomatisch für den öffentlichen Diskurs ist es schon, ein Wort, ohne weiter nachzudenken oder gar nachzuforschen, von der Oberfläche abzugreifen, es dann millionenfach in allen Medien, Gesprächen und Talkshows auszustreuen. Unverhofft gerät derjenige, der es gesagt oder geschrieben hat, ins Visier des Tugendterrors – ob aus guten Gründen oder nicht, spielt keine Rolle.

Eine Zensur findet nicht statt, heißt es in unserem Grundgesetz. Gemeint ist die Beschneidung der Meinungsfreiheit durch den Staat. Die gibt es in der Tat nicht. Dafür haben wir die Aufpasser mitten unter uns.

Roman Herzog, Wulffs Vorvorgänger, fällt mir da ein, der nach seiner Wahl von einer Entkrampfung im Verhältnis zur jüngsten deutschen Geschichte sprach. Alarm! Alarm! Sofort vermeinten die Gesinnungswächter einen Aufruf zum Schlussstrich zu vernehmen.

Dürfen uns auf den perfekten Bundespräsidenten freuen

Schon Philipp Jenninger, einstmals Bundestagspräsident, ein ausgewiesener Freund Israels, verlor 1988 wegen einer ungeschickten und falsch betonten Formulierung am 50. Jahrestag der Novemberprogrome seinen Job. Über Martin Walser, ob seiner Bemerkung, Auschwitz würde von manchen Leuten instrumentalisiert, brach ein Sturm los. Thilo Sarrazin musste nach Erscheinen seines umstrittenen Buches den Vorstand der Bundesbank verlassen. Ausgerechnet der so wahnsinnig redliche Christian Wulff hatte den Rausschmiss während seiner kurzen Amtszeit im Bellevue angeregt. Wer mehr oder minder fahrlässig an eines unserer Tabus rührt – Geschichte, Holocaust, Einwanderer, Armut –, findet sich schnell am Pranger wieder. Dann besteht die Gesellschaft mit Wonne auf jedem, die Erregung stützendem Missverständnis.

So kommt es auch, dass wir uns nun endlich auf den perfekten Bundespräsidenten freuen dürfen. Er soll sich nicht nur zur Freiheit, sondern ebenso zur Gerechtigkeit, zur Fremdenfreundlichkeit, Integration und gegen jegliche Diskriminierung bekennen. Auch zur Eurokrise möge er sich bitte äußern – und alles selbstverständlich politisch höchst korrekt. Da seufzt der Kandidat. Fast kann man es hören. Denn derart frei, wie er seit 1989 gewesen ist, wie er es so bewusst genossen und nach außen vertreten hat, wird Joachim Gauck für ziemlich lange Zeit nicht mehr sein.

Die Kolumnen von Sibylle Krause-Burger sind in dem Buch „Mein Blick auf die Republik – Momentaufnahmen aus Deutschland“ gesammelt. Es ist erschienen im Hohenheim-Verlag.