Hinter seinem Gedicht versammeln sich linke und rechte Antisemiten Hand in Hand – meint unsere Kolumnistin Sibylle Krause-Burger.

Stuttgart - Die Szene werde ich nie vergessen: wie die offenbar junge Frau auf dem Kartoffelacker sitzend, im Feuer stochernd, einen Flüchtigen vor den Feldgendarmen unter ihren vier Röcken verbirgt, wie der als klein und breit Beschriebene die Zeit in der einzigartigen Geborgenheit nutzt, um ein Kind zu zeugen, wie die derart Beglückte die Augen verdreht und vor Lust stöhnt, während die Verfolger, ein Langer und ein Kleiner, sich mächtig wundern und schließlich davon traben. So stellte Günter Grass, der damals junge Autor, wunderbar und wortreich, auf den ersten Seiten der „Blechtrommel“ das familiengründende Erlebnis der kaschubischen Großmutter des Ich-Erzählers vor. Ja, das war wahnsinnig gut geschrieben, das war witzig, das war ein Stück Weltliteratur.

 

Vom Schreiben verstand er viel. Von der Liebe auch. Sein Kollege Gerhard Zwerenz, ihn ankündigend, rief einmal ins Publikum, Grass sei einer vom Typ Mütter-hütet-eure-Töchter. Dann aber kam zunehmend die Politik in sein Leben, zu der sich der Dichter auch berufen fühlte. Seine frühe SS-Zeit wollen wir dabei gar nicht werten. Er hätte diese Jugendsünde allerdings gefahrlos einräumen und derart, als gebranntes Kind, seinen Einsatz für die SPD und Willy Brandt, den Emigranten, noch viel glaubwürdiger gestalten können. Obwohl ihm – wie vielen anderen – der Mut zur Offenbarung fehlte, konnte man den Wahlkämpfer Grass durchaus ernst nehmen. Beim Wiedervereinigungskritiker fiel das schon erheblich schwerer. Und dann allzeit dieser hohe moralische Ton, 1985 etwa, in der Kritik an Helmut Kohl, der mit Ronald Reagan den Soldatenfriedhof in Bitburg besuchte, auf dem auch SS-Gefallene begraben liegen. Offenbar übte sich der Dichter da in der Auslagerung seiner eigenen Sünden aufs unschuldige Haupt des Kanzlers. Das nennt man Projektion.

Sein Gedicht kündet vom Niveauverlust

Doch immer war es auch Provokation. Die macht berühmt, die fördert ein Talent in einer Gesellschaft, die sich so wahnsinnig gern von medialen Aufregern unterhalten lässt. Und wenn er nun schon lange keine Blechtrommel mehr schreiben kann, und wenn inzwischen nicht einmal mehr ein Hauch von jenem fernen Geniestreich durch „Was gesagt werden muss“ weht, so will er wenigstens mit politisch anstößigen Äußerungen Aufmerksamkeit erregen. Sein sogenanntes Gedicht kündet also vom fortschreitenden literarischen wie politischen Niveauverlust bei begreiflicherweise gleichzeitig gesteigerter Geltungssucht. Wir werden nicht mehr unterhalten. Dafür soll am Grassschen Wesen die Welt genesen.

Vergleichbare Vorhaben sind hierzulande schon früher gescheitert. Der einst große Dichter wird kaum erfolgreicher sein. Nicht nur, weil er Ursache und Wirkung verwechselt, weil er das rundum bedrohte Israel mit seiner zweifellos kritikwürdigen Regierung pauschal als völkervernichtenden Aggressor verteufelt, den mörderischen Iraner Ahmadineschad hingegen als Maulhelden verharmlost. Hinzu kommt, dass sich Günter Grass als einsamen Mahner in einer Sache preist, die von vielen anderen schon lange vor ihm kritisiert worden ist - nicht zuletzt aufs Allerheftigste in Israel selbst. Doch all diese Fehler könnte man ihm durchgehen lassen. Solche Selbstherrlichkeiten unter alten Männern sind normal. Soll er die späte und vielleicht letzte Vielbeachtung doch genießen. Wenn da nur nicht der Beifall wäre, der – bei aller Kritik von Politikern und Kommentatoren – aus dem Volk jetzt aufrauscht.

Den Israelis kann das egal sein

Einer Umfrage der Financial Times Deutschland zufolge hält mehr als die Hälfte unserer Landsleute die aberwitzigen Thesen im Grass-Gedicht für richtig. Das ist kein Wunder, wenn man sich an den Bericht einer Expertenkommission der Bundesregierung erinnert, der jüngst jeden fünften Deutschen als latent antisemitisch eingestuft hat. Die massenhafte Zustimmung für unseren hoch geschätzten Preisträger, gewiss ohne dass er selbst ein Antisemit ist, schöpft aber aus diesem Reservoir. Ah, endlich sagt einer, noch dazu so ein Weltberühmter, was man sich doch längst gedacht, jedoch niemals selbst zu sagen getraut hat: Israel, eine Atommacht, die „den ohnehin brüchigen Weltfrieden“ gefährdet, Israel, ein Land welches „das zum organisierten Jubel gelenkte iranische Volk auslöschen könnte“. Da atmen hier doch viele erleichtert durch, da sind wir in Deutschland glatt rehabilitiert, da sieht man, dass die Juden auch nicht besser sind als es die Nazis einmal waren – Kriegstreiber und Völkermörder. Gelobt sei Grass.

Und wenn wir nun so viele beieinander sehen, eine hübsche Mehrheit gar, die sich hinter dem lieben Nobelpreiswahrsager versammelt, dann sind darunter nicht nur die alten und neuen Nazis zu finden. Die Linken, die ihren Antisemitismus antiisraelisch verkleiden, gesellen sich begeistert dazu. Rückwärts gewandte, nationalistische Selbstentlaster und gutmenschenhafte Weltverbesserer Hand in Hand gegen den Staat der Juden. Das hat der große Günter – bewusst oder unbewusst - mit seinem Gedicht getan. Den Israelis kann das ziemlich egal sein. Sie haben andere Sorgen. Uns Deutsche aber taucht dieser Applaus wieder einmal in ein schillerndes Licht.