1940 war der Hohenasperg Schauplatz der geplanten Vernichtung der Sinti und Roma. Der Historiker Wolfgang Benz erinnert in einem Vortrag daran. Viele Vorurteile gegenüber den Volksgruppen bestünden heute noch.

Ludwigsburg - Köln, Hamburg, Hohenasperg: das waren im Frühjahr 1940 die Hauptknotenpunkte zur Deportation tausender Sinti und Roma, derer sich das NS-Regime entledigen wollte. Mehr als ein halbes Jahrhundert später habe sich an der zugrundeliegenden Problematik – den Vorurteilen gegen die als „Zigeuner“ gebrandmarkte Ethnie – viel zu wenig geändert, sagt der Historiker Wolfgang Benz. Diesem Dienstagabend spricht er darüber in Ludwigsburg.
Wolfgang Benz Foto: privat
Herr Benz, der Völkermord an den Sinti und Roma hat wenig Platz im kollektiven Bewusstsein. Woran liegt das?
Den Überlebenden hat es an einer starken Lobby gefehlt, die etwa die Juden in Form der Alliierten hatten. Um „die Zigeuner“ hat sich kein Mensch gekümmert, bis Ende der 1970er Jahre hielt man sie sogar für selbst schuld an dem, was passiert ist.
Inwiefern?
Sie wurden als asoziale Menschen betrachtet, die sich nicht anpassen konnten. Es hieß, sie seien an ein geordnetes Leben nicht zu gewöhnen – und ihre Ermordung im KZ kein rassistisches Verbrechen, sondern quasi Kriminalitätsprävention.
Wie ist die landläufige Meinung über die Sinti und Roma?
Sie sind noch immer die unbeliebteste Minderheit in Deutschland. Die Abneigung sitzt ganz tief, man meint, sie seien von Haus aus kriminell, sexuell zügellos und hätten keine Vorstellung von Eigentum.
Wie sind diese Ressentiments entstanden?
Sinti und Roma haben immer am Rande der Gesellschaft gelebt, auch wegen ihres Aussehens wurden sie als Fremde wahrgenommen. Man sagte ihnen nach, sie wollten keine anständige Arbeit und keinen festen Wohnsitz – dass man ihnen beides verwehrte, kehrte man unter den Tisch.
Wie kam es dann zum Völkermord?
Nun, das NS-Regime bekämpfte alles, was fremd war – das definierte man über Rasse oder Verhalten. Bei den Juden war es die Rasse, bei den Sinti und Roma beides, sie galten als asozial. Das reichte vollkommen als Rechtfertigung.
Im Mai 1940 ordnete Heinrich Himmler die ersten Deportationen an.
Die Sinti und Roma kamen zunächst in Sammellager, je nach Wohnort auf den Hohenasperg, nach Köln oder zum Hamburger Hafen. Himmler hat damals bestimmt, dass aus dem Raum Stuttgart 500 Sinti und Roma auf den Hohenasperg gebracht werden mussten.
Wie lange blieben die Gefangenen dort?
Nur wenige Tage. Dann wurden sie in Züge verladen und nach Polen, vor allem nach Auschwitz-Birkenau, deportiert. Dort wurde extra ein Familienlager für sie eingerichtet. Über den Hohenasperg kamen tausend, vielleicht mehrere tausend Sinti und Roma.
Wie viele wurden insgesamt ermordet?
Konkrete Zahlen sind sehr, sehr schwierig, das ist auch eine politische Frage. Oft ist von 500 000 toten Sinti und Roma die Rede, 200 000 sind dokumentiert. Letztlich sind die Zahlen auch zweitrangig; wichtig ist, dass die Diskriminierung der Sinti und Roma bis heute anhält, ebenso wie die Klischeevorstellungen.
Wie leben sie heute in Deutschland?
Man weiß nicht besonders viel über sie. Es gibt auch keine konkreten Zahlen, wie viele in Deutschland leben. Viele verbergen ihre Identität im Alltag um jeden Preis, etwa, weil sie um ihren Job bangen. Die meisten sind genauso gebildet – und sesshaft – wie der Rest der Gesellschaft.
Es gibt Studien, die belegen, dass viele Menschen nichts mit ihnen zu tun haben wollen.
Ja, vor allem ältere Menschen. Solche Vorurteile kann man kaum noch ändern, wenn man sein Leben lang gehört hat, dass Zigeuner stehlen, was sie in die Finger bekommen. Das kam sogar in Kinderbüchern vor.
In den letzten Jahren ist der Begriff Antiziganismus aufgekommen, der diese Tendenz beschreibt. Sind Sie damit glücklich?
Nein, es ist eine unglückliche Bezeichnung. Da steckt der Rassismus ja durch die Ableitung vom diskriminierenden Wort Zigeuner noch drin. Aber wenn sich so ein Begriff erst einmal etabliert hat, hat es wenig Sinn, sich zu beklagen. Auch der Begriff Antisemitismus ist letztlich falsch, einen neuen einzuführen wäre aber sinnlos. Diese Kraft sollte man lieber in die Bekämpfung des Phänomens stecken.
Haben Sie da überhaupt noch Hoffnung?
Hätte ich die nicht, würde ich nicht Vorträge halten und Bücher darüber schreiben. Man muss auf Aufklärung setzen, trotzdem ist es schwer, weil es bequemer ist, Vorurteile zu haben als sie zu überwinden.
Brauchen die Menschen diffuse Feindbilder?
Ja, das dient der Selbstbestätigung. Wenn wir beide sagen, den da mögen wir nicht, der ist blöd, dann verbindet uns etwas Positives. Das Selbstbewusstsein der Mehrheit wird größer, wenn es eine Minderheit gibt, auf die man mit dem Finger zeigen kann.