Kretschmanns dritte Regierung hat Jahrestag Zeitenwende für Grün-Schwarz
Baden-Württembergs Landesregierung hat Geburtstag. Grund für Jubel ist der erste Jahrestag nicht: Grün-Schwarz muss sich neu erfinden. Wir haben da ein paar Vorschläge.
Baden-Württembergs Landesregierung hat Geburtstag. Grund für Jubel ist der erste Jahrestag nicht: Grün-Schwarz muss sich neu erfinden. Wir haben da ein paar Vorschläge.
In diesen Tagen feiert die grün-schwarze Koalition ihren ersten Jahrestag seit der Landtagswahl. Beim Beschluss ihres Regierungsprogramms setzten der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann und sein CDU-Vize Thomas Strobl ganz auf ein frühes Ende von Corona und schnell wieder sprudelnde Steuereinnahmen. Der Koalitionsvertrag ist deshalb ein 162 Seiten langer Wunschzettel und steht komplett unter Haushaltsvorbehalt. Einzige Ausnahme: die Bekämpfung der Pandemie und ihrer Folgen.
Was vor einem Jahr allenfalls halbseiden war, ist durch den Krieg in der Ukraine überholt. Er lässt Aussichten auf Wirtschaftswachstum und ein hohes Steueraufkommen in sich zusammenfallen. Grün-Schwarz muss nun tun, was seit Winfried Kretschmanns Aufstieg an die Macht nie nötig war: Prioritäten setzen. Und sparen. Das wird ein Kraftakt. Welche Hausaufgaben anstehen? Wir haben ein paar Vorschläge für die wichtigsten Themenfelder der Landespolitik.
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Haushalt Sehr schnell muss die Koalition jetzt nachholen, was sie zwischen Landtagswahl und Regierungsbildung im Frühjahr 2021 unterlassen hat: den Wunschzettel zu einem Programm für die nächsten Jahre eindampfen und entscheiden, was nötig und finanzierbar ist. Alles andere gehört gestrichen oder auf die lange Bank ans Ende der Legislaturperiode geschoben. Diesen Teil der Zeitenwende muss die Koalition bei den Beratungen über den Doppelhaushalt 2023/24 schaffen.
Verzettelt sich Grün-Schwarz jetzt im Klein-Klein des Wünschenswerten, verfehlt die Koalition drei Ziele: die Substanz des Landes zu stärken, den Klimaschutz voranzubringen und eine Finanzpolitik, die der jungen Generation keine zu viele Lasten aufbürdet. Das „bedeutet, dass wir sehr genau unterscheiden müssen zwischen Dingen, die notwendig und geboten sind, um unser Land voranzubringen, und Dingen, die zwar wünschenswert, aber derzeit nicht finanzierbar sind“. So hat es sich die Koalition ins Stammbuch geschrieben. Jetzt kommt es zum Schwur: Bisher hat Grün-Schwarz über das Sparen nur geredet. Jetzt müssen sie es auch tun.
Bildungspolitik Weil die Pflichtaufgaben in diesem Themenfeld so groß und drängend sind, hat Baden-Württemberg für die Kür in der Schulpolitik in den nächsten Jahren mutmaßlich kein Geld. Die wichtigste Daueraufgabe ist, bei wachsenden Schülerzahlen, mangelndem Lehrernachwuchs und nun auch noch knapper Kasse die Unterrichtsversorgung zu stabilisieren und zu verbessern. Daneben gibt es drei Prioritäten. Um die Fortschritte bei der Digitalisierung der Schulen aus der Pandemie zu konsolidieren, muss das Land jetzt die Ausstattung der Lehrer und Schüler mit Laptops ausbauen und die Finanzierung dauerhaft sichern.
Das Land muss Wege finden, um die Betreuung der unter dreijährigen Kinder in Kitas trotz grassierendem Fachkräftemangel schnell auszubauen. Zum einen gilt der Rechtsanspruch auf die Betreuung für die Kleinen schon seit vielen Jahren. Zum anderen kommt 2026 der nächste Rechtsanspruch – auf Betreuung in der Grundschule. Diese Großaufgaben sind nur zu stemmen, wenn die Lastenteilung zwischen Kommunen und Land dauerhaft neu geregelt wird: Deshalb ist die neue Schulträgerschaft die Schlüsselreform dieser Wahlperiode.
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Wegen absehbaren Geldmangels aufschieben muss Grün-Schwarz den Plan, Schulen an Standorten mit hoher Arbeitslosigkeit und hohem Migrantenanteil mehr Geld zuzuweisen und die Inklusion an allen Schularten auszubauen.
Innenpolitik Die Stimmung im Land ist angespannt. In Baden-Württemberg werden immer mehr antisemitische Straftaten begangen. Demonstranten ziehen direkt vor die Privathäuser von Politikern, um ihrem Unmut Luft zu machen. Dem Kampf gegen Hass und Hetze haben sich Grüne und CDU schon in ihrem Koalitionsvertrag verschrieben. Das erste Jahr der neuen Legislaturperiode hat bestätigt, dass es eine der dringendsten Aufgaben im Bereich innere Sicherheit ist, den Aktionsplan gegen Hasskriminalität auf allen Ebenen – im Netz wie in der analogen Welt – weiter voranzutreiben. Auf diesem Weg muss die Koalition engagiert weiter gehen.
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Flexibilität ist im Umgang mit den Flüchtlingen aus der Ukraine gefragt. Hinter ihnen steht ein großes Fragezeigen. Niemand weiß, wie viele kommen werden und wie lange sie im Südwesten bleiben werden. Unbestritten ist die Flüchtlingsunterbringung und die Bereitstellung von erschwinglichem Wohnraum für alle eine der großen Herausforderungen, die die Koalition zu lösen hat. Auch im Katastrophenschutz ist einiges nachzuholen. Er ist sowohl durch die Umweltkatastrophen wie Hochwasser und Stürme wie auch durch den Krieg in der Ukraine wieder deutlich stärker ins Bewusstsein gerückt. Bei beidem ist auch der Bund in der Pflicht. Aber auch das Land wird seinen Anteil beitragen müssen. Vorgelegt haben Grüne und CDU bei der Reform des Landtagswahlrechts. Das Zweistimmenwahlrecht ist beschlossen. Doch muss sich die Koalition noch auf Rechtsstreitigkeiten und Nachbesserungen einstellen.
Hochschulen Bei den Hochschulen wähnte sich die Koalition dank des langfristigen Finanzierungsvertrags auf der sicheren Seite. Die Förderung ist bis 2025 festgeschrieben, ein jährlicher Steigerungsbetrag ebenfalls. „Mit der neuen Hochschulfinanzierungsvereinbarung bieten wir unserer Wissenschaftslandschaft auch in schwierigen Zeiten eine verlässliche Perspektive“, heißt es im Koalitionsvertrag. Die stark gestiegenen Energiepreise könnten der Koalition aber einen Strich durch die Rechnung machen. Da wird zusätzliches Geld für die Hochschulen nötig sein. Die Coronapandemie hat die Digitalisierung an den Hochschulen zwangsläufig beschleunigt. Dafür gab es vom Land Sondermittel. Doch für den flächendeckenden Einsatz reicht die Infrastruktur noch nicht aus.
Abgesehen vom Geld geht es auch um die zukunftsfeste Ausrichtung der Hochschulen im Land. Mit Klimawandel, Dekarbonisierung und Transformation der Automobilindustrie gehen neue Anforderungen an die Studienangebote der Hochschulen einher. Bei aller Autonomie der Hochschulen, muss das Land sich positionieren, welche Studiengänge es in Zukunft genehmigen will.
Klimaschutz
Dass die Koalition den Klimaschutz zum zentralen Anliegen der Wahlperiode gemacht hat, wird durch den Krieg in der Ukraine noch einmal als richtig bestätigt. Allerdings wird die Verwirklichung der Klimaziele viel schwieriger. Deshalb darf Grün-Schwarz sich nicht länger mit dem Schulterklopfen begnügen, wie richtig es doch sei, den Ökostrom auszubauen, weil das die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen verringere. Jetzt ist die zentrale Aufgabe, Versorgungssicherheit im Südwesten notfalls ohne Öl, Gas und Kohle aus Russland erstens überhaupt und zweitens klimaschonend zu gewährleisten und schnell Lösungen zu finden, die die Schwankungen bei Wind- und Sonnenstrom ausgleichen.
Allerdings hat Kretschmann diese Ziele korrigiert. Was er bisher nur angedeutet hat, ist erstmals klar ausgesprochen: Der Regierungschef hält es nicht mehr für möglich, bis 2026 tausend Windräder im Land zu bauen. „Das ist nicht zu schaffen“, sagte er. Mit dem derzeitigen Stand sei er „natürlich nicht zufrieden“. Ziel müsse es werden, 100 Räder im Jahr aufzustellen. „Das ist einigermaßen realistisch.“ Im Koalitionsvertrag heißt es unter anderem noch, es sollten die Voraussetzungen geschaffen werden für den Bau von bis zu 1000 neuen Windkraftanlagen.
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Zwar führt die neue Energieunsicherheit aktuell zu einem regelrechten Run auf Solaranlagen und energetische Sanierungsmaßnahmen. Dennoch setzt die starke Inflation der einfachen Grundidee von Kretschmanns Koalitionären, dass Klimaschutz ja kein Staatsgeld koste, weil man ihn den Bürgern durch ordnungspolitische Entscheidungen abverlangen könne, engere Grenzen als vor einem Jahr angenommen. Schraubt man notfalls die ehrgeizigen Klimaziele zurück? Oder braucht es vielleicht doch Förderprogramme auch vom Land, um die ordnungspolitischen Maßnahmen für mehr Klimaschutz zu flankieren? Dann wird spannend, an welcher Stelle im Landesetat geknapst wird, um Mittel dafür aufzutreiben.