Etwa ein Drittel des Gebietes des Regierungsbezirks Kurs ist inzwischen ukrainisch besetzt oder umkämpft. Verstärkt werden die ukrainischen Brigaden jedoch nicht, sie verschanzen sich auch nicht, legen keine Depots an. Das deutet darauf hin, dass sie sich zurückziehen werden, sollten starke russische Verbände sie angreifen.

Mitten im Krieg steht den ukrainischen Soldaten der Sinn nach Humor: Alles aus dem Restaurant im Herzen der russischen Kleinstadt Sudscha sei toll: „Köstliches Essen, toller Service. Nur Parkplätze fehlen! Ich konnte meinen Panzer nicht parken“, schrieben sie in die Restaurantbewertung. Dabei sind nahezu alle der etwa 6500 Einwohner geflohen, seitdem am 7. August ukrainische Truppen die russische Grenze überschritten und in den Regierungsbezirk Kursk eindrangen. Dazu Zahlen, Fakten und Analysen.

 

Wie viele ukrainischen Soldaten sind etwa in Russland?

Das ukrainische Heer steht mit 10 000 bis 15 000 Soldaten in Russland. Am gestrigen Donnerstagmittag kontrollierten sie 824 Quadratkilometer russischen Territoriums, in weiteren 817 Quadratkilometern mit einer Frontlänge von 190 Kilometern wird gekämpft. Fünf Brigaden und fünf selbstständige Bataillone sind auf ukrainischer Seite zweifelsfrei identifiziert. Sie sind mit US-Transportpanzern Stryker, australischen Bushmaster-Transportern, dem englischen Challenger- und verschiedenen russischen Kampfpanzernmodellen ausgerüstet.

Wer steht den ukrainischen Soldaten gegenüber?

Wer steht ihnen auf russischer Seite gegenüber?

Bis gestern Mittag warf der russische Diktator Wladimir Putin sechs Regimenter Infanterie, je ein Regiment Marineinfanterie und Fallschirmjäger in die Schlacht – insgesamt etwa 10 000 Mann. Diese Verbände graben sich vor allem im Zuge der Autobahn P 200 in Richtung Kursk sowie östlich davon ein. So soll offenbar verhindert werden, dass die ukrainischen Truppen auf die 425 000 Einwohner zählende Stadt Kursk oder aber das 120 Kilometer südöstlich gelegene Belgorod, dem Logistikzentrum der russischen Streitkräfte in der Ukraine, vorstoßen.

Wie weit ist die Ukraine vorgedrungen?

Die Angriffsspitzen sind im Nordwesten der Grenze 28 Kilometer bis an die Kleinstadt Korenewo (6300 Einwohner), im Norden bis zum Dorf Kromskie Byki (320 Einwohner) und im Osten zum Dorf Gir’i (1450 Einwohner) vorgedrungen. Spezialeinheiten sind mit 237 Kilometer den halben Weg nach Moskau in die Stadt Belyov vorgedrungen, wie deren Bürgermeister bestätigte.

Auf Satellitenfotos ist nicht zu erkennen, dass sich ukrainische Truppen in der Region Kursk eingraben. Das lässt den Schluss zu, dass sie das besetzte Gebiet nicht verteidigen wollen.

Wann begann der Angriff auf die Region Kursk genau?

Am 15. Juli veröffentlichte die am Angriff beteiligte Drohneneinheit der 22. Mechanisierten Infanteriebrigade Videos, wie sie im Grenzgebiet russische Videokameras, Radarmasten und Fernmeldemasten zerstörte. Diese wurden nicht wieder aufgebaut. In der Folge brach die Funk- und Telefonkommunikation auf russischer Seite zusammen. Unterdessen transportierten die ukrainischen Kommandeure ihre Soldaten in ziviler Kleidung in grenznahe Bereitstellungsräume. Die Panzer führten sie erst in der Nacht zum 7. August zu, sodass der Angriff von zwei Brigaden in den Morgenstunden vollkommen überraschend für Russland kam.

Was sagen die militärischen Bezeichnungen über die tatsächlichen Verbände aus?

Nichts. Eine Brigade, die inzwischen auch nach ukrainischer Definition wie in der Nato etwa 4500 Soldaten meint, hat teilweise nur eine Stärke von 1500 Mann. Bataillone, normalerweise 750 Mann stark, zählen nur noch 150 Soldaten – eine verstärkte Kompanie. Gleiches gilt auf russischer Seite für die als Regimenter (2000 Mann) bezeichneten Verbände. Aber: Mit den mechanisierten Brigaden 22. und 88. sowie der 80. Luftlandebrigade hat der ukrainische Generalstabschef Oleksandr Syrskyj drei Großverbände nach Russland geworfen, die in nahezu voller Mannstärke und vollständig ausgerüstet sind. Diese Verbände waren Teil der operativen Reserven von Frontabschnitten im Süden und Osten der Ukraine. Sie gehören zum Besten, was das ukrainische Heer derzeit hat.

Hat Russland noch Artillerie-Reserven?

Was überrascht an der russischen Verteidigung der Region Kursk?

Russland hat offenbar keine Artillerie-Reserven mehr. Bereits mehrfach wurden ukrainische Infanteriegruppen in der Stärke von bis zu acht Soldaten und ihr Fahrzeug mit Boden-Boden-Raketen SS-26 angegriffen. Diese strategischen Raketen haben eine Reichweite von 480 bis 500 Kilometer. Zum zweiten überrascht die hohe Zahl sich ergebender russischer Soldaten. Konservativ geschätzt haben ukrainische Verbände in den neun Tagen ihrer Offensive zwischen 2500 und 3500 Russen gefangen genommen.

Wie sieht es an der Front im Süden und Osten der Ukraine aus?

Russische Verbände stoßen aus der im Februar eroberten Region um Avdijvka auf die operativ wichtige Stadt Prokovsk vor. Sie ist noch das logistische Herz für den mittleren Teil der etwa 1080 Kilometer langen Front. Von hier aus werden die Truppen in den Regionen um Orichiw, Bachmut und Kramatorsk versorgt. Die mit dem Angriff bei Kursk verbundene Hoffnung, Russland ziehe Truppen von bedrohten Frontabschnitten ab, um diese so zu entlasten, hat sich bislang nicht erfüllt. Im Raum Charkiw werden russische Truppen über die Grenze zurückgedrängt.

Wie könnte es weitergehen?

Die ukrainischen Verbände dürften ein Verzögerungsgefecht gegen russische Gegenangriffe führen, wenn diese kommen. Dabei werden sie versuchen, den russischen Verbänden hohe Verluste zuzufügen und sich langsam aus Russland zurückziehen. Für diese Spekulation spricht, dass sich zwei ukrainische Brigaden festungsartig auf ihrer Seite der Grenze verschanzt haben.