Krieg in der Ukraine Der Frieden ist noch fern

Junge Frauen trauern um die Opfer des russischen Angriffs auf Sumy im April. Foto: Till Mayer

Russland verstärkt seit Wochen seine Angriffe auf zivile Ziele in der Ukraine mit Hunderten von Drohnen und Raketen. Besuche in Kiew, Sumy und an der Nordost-Front.

Wie ausgestreckte Finger ragen Mauerstücke aus dem Schuttberg auf. Das ist alles, was vom Gebäude übrig geblieben ist. Ein paar Wände, die trotzig stehen blieben. Inmitten all der Trümmer. Der Abend wandelt sich in schwarze Dunkelheit. Scheinwerfer leuchten über all der Zerstörung, das Licht fängt sich in mächtigen Staubwolken. Ein Bagger schaufelt sich im Scheinwerferlicht durch Ziegelsteine, Balken und Bretter. Noch immer werden Bewohner vermisst. Feuerwehrleute stehen in den Trümmern bereit, um ihre Leichname zu bergen. In Kiew ein trauriges Bild, dass seit Beginn der Invasion immer wieder kehrt. So wie an vorigem Wochenende.

 

Doch schon seit Wochen nehmen die Angriffe an Heftigkeit zu. Zwölf Menschen sterben, 70 werden verletzt, als in der Nacht vom 23. auf den 24. April Russland einen kombinierten Angriff mit Drohnen und Raketen startet. Die Explosion der Einschläge und der Luftabwehr erschüttern, wie in so vielen Nächten, die Hauptstadt der Ukraine. Doch dieser Angriff ist besonders schwer. Und er kommt in einer Zeit, in der US-Präsident Donald Trump sich als Friedensstifter inszenieren will. Von einem nahen Frieden spüren die Menschen in Kiew und der Ukraine nichts. Die Angriffe setzen sich unbarmherzig fort.

Neue Ruinen und neue Gräber

Putins „Friedenswillen“ schafft neue Ruinen und neue Gräber. In der ersten Nacht nach dem Einschlag hasten in der Dunkelheit die Bewohner mit LED-Lichtern zwischen den Wohnblocks aus Sowjetzeiten. Schatten, die aus beschädigten Häusern Habseligkeiten tragen. Die Dächer sind durch die Druckwelle abgedeckt oder beschädigt, Fensterscheiben zersprungen. So wie bei Halyna nach dem Angriff Ende April. Die 68-Jährige steht fassungslos in ihrer Wohnung. Wo der Lichtkegel ihrer Stirnlampe hinfällt, herrscht Chaos. Zersprungenes Glas, umgefallene oder zersplitterte Möbel. Abgebröckelter Putz.

„Entschuldigen Sie bitte die Unordnung“, murmelt sie immer wieder. Dann erzählt sie von ihrer Tante in Abchasien, während ihre Schritte über Glassplitter knirschen. Abchasien ist ihre alte Heimat. Ein Gebiet Georgiens, das Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als eine „Separatistenrepublik“ unter seine Kontrolle brachte, und bis heute immer fester an sich bindet.

1986 heiratete Halyna und zog nach Kiew. „Ich habe in der Ukraine meine neue Heimat gefunden. Meiner Tante hat der Krieg in Abchasien das Leben gekostet. Sie wurde getötet, von Männern, hinter denen Russland steht“, sagt die Rentnerin. „Ich hatte gestern im Keller Zuflucht gesucht, als die Sirenen heulten. Jetzt, in all dieser Zerstörung, muss ich an meine Tante denken. Russland bringt Tod und Zerstörung. Putin will keinen Frieden, sondern Land und Macht“, sagt sie. Dann blickt sie durch eine gebrochene Scheibe in die Dunkelheit. Der nächste Angriff aus der Luft, er kann jederzeit kommen.

So schlimm wie noch nie

Russland intensiviert in diesen Tagen seine Angriffe. So schlimm wie jetzt, war es für viele Menschen gerade in der westlichen Ukraine noch nie seit dem Einmarsch der russischen Armee. In Sumy, im Nordosten des Landes, indes ereignete sich Mitte April eine Katastrophe für die dortige Bevölkerung. Am 13. April trafen zwei russische Raketen das Zentrum der Stadt. Die erste schlug in ein Kongress-Zentrum der Universität ein und hinterließ nichts als Zerstörung. „Wir sind stolz auf die Weltoffenheit unserer Universität. Vor der Invasion hatten wir Studenten aus aller Welt. Sprich aus 55 Ländern“, sagt Vasyl D. Karpusha, der Rektor der Uni. In dem Kongress-Zentrum ist auch das Büro für die Internationale Zusammenarbeit zu finden. „Zum Glück wurden nur drei Mitarbeiter verletzt, keiner tödlich“, sagt der 62-Jährige.

„So sieht kein Willen zum Frieden aus.“

Die zweite Rakete hat noch schlimmere Folgen. Der Schlag erfolgt wenige Minuten später und keine 400 Meter entfernt, um 10.20 Uhr. Diese Rakete ist mit Splittern beladen, explodiert über dem Boden. Es ist Palmsonntag, viele Menschen sind unterwegs. 35 sterben, 80 werden teils schwerst verletzt. Die Splitter zerfetzen manchen Passanten regelrecht. „Nach dem Angriff bin ich sofort los. Angekommen, ging ich durch die Toten, die abgedeckt auf dem Boden lagen. Ich werde das nie vergessen. Es war furchtbar“, erzählt Karpusha. „So sieht sicherlich kein Willen zum Frieden aus.“

Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, legen gerade drei Teenager und eine Erwachsene Blumen nieder. Die Menschen haben einen Ort des Gedenkens geschaffen. Sumy war nicht zum ersten Mal Ziel eines Angriffs. Aber der 13. April zeigte den Bewohnerinnen und Bewohnern eine neue Form der Brutalität. Kristina hat gerade ihr Studium in Kiew begonnen. Die 17-Jährige will einmal Dolmetscherin werden: „Drei Tage habe ich nur geweint. Unter den Toten ist auch eine Lehrerin meiner alten Schule.“ Als die Rakete einschlägt, treffen die Splitter auch einen Bus und seine Fahrgäste. „Wie oft fahre ich mit dieser Linie. Wenn ich in Sumy bin, fast täglich. So schnell kann der Tod kommen“, meint die junge Frau. Kristina und ihre Freundinnen Sophia und Valeriya schreiben Gedichte. „Das hilft gegen den Schmerz des Kriegs“, sagt Kristina. „Mein Sumy ist ukrainisch und bleibt es“, fügt die 17-Jährige hinzu. Gefolterte, Verschwundene, Vergewaltigte, Ermordete, Entrechtete: Was unter russischer Besatzung passiert, dass wissen die Ukrainerinnen und Ukrainer nur zu gut. Kristina hilft es, sich mit ihrer Lehrerin und den Freundinnen in den Armen zu halten.

Igor ist ein Soldat an der Front. Foto: Till Mayer

An der Front geht derweil der Kampf ohne Innehalten weiter. „Es ist ein lauter Tag heute“, sagt ein Soldat namens Igor. Dann fährt die Panzerhaubitze aus ihrem Versteck in einem Waldstück, nahe der Grenze zu Russland, im Nordosten der Ukraine. Sechs Kilometer sind es zu den feindlichen Linien. Freie Schussbahn und „Paladin“, das stählerne Ungetüm aus US-Produktion, speit Feuer, Rauch und eine Granate. Und die nächste. Und die nächste. Jeder Schuss bedeutet eine Explosion, bei der der Boden zittert, Erde in die Luft geschleudert wird. Dann ein Funkspruch an Igor. Feindlich Drohne im Anflug.

Zurück geht es für die Panzerhaubitze unter die Abdeckung aus Tarnnetzen. Frühere Explosionen von Drohnen haben ihre Spuren an der Panzerung des Mehrtonners hinterlassen. Die Crew läuft im schnellen Schritt in den nahen Erdbunker und wartet. Auf die Freigabe für die nächste Salve, auf neue Ziel-Koordinaten. Igor meldete sich im September 2022 freiwillig zur Armee. Er hat fast an allen Fronten des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine gekämpft: Bachmut, Pokrowsk, Awdijiwka. Jetzt also ein Einsatz im Nordosten, nahe Sumy. Auf der anderen Seite der Grenze zieht Russland Truppen zusammen. Eine neue, groß angelegte Front droht.

Mit einer Tasse Kaffee in der Hand sitzt Igor in der Dunkelheit des Bunkers. „Meine Tochter war ein Kind, als ich in den Krieg zog. Jetzt ist sie ein Teenager. Ich bin an der Front. Krieg bedeutet verlorene Zeit, Abstand von der eigenen Familie“, sagt der Mann. Dann präsentiert er stolz seine Buchvorlesungen, kurze Clips laufen auf seinem Facebook-Account. Igor ist im Zivilleben Ingenieur, aber auch Autor eines Kinderbuchs.

Dann berichtet der 40-Jährige, wie er davon träumt, mit einem Camper und der der Familie nach Spanien oder Portugal zu fahren. Wenn der Frieden da ist. „Aber es wird nicht leicht sein zurückzukehren. Nach all dem, was man an der Front erlebt. Die Zeit einzuholen, die vergangen ist.“ Dann rauscht eine Stimme aus dem Funkgerät. Igor bekommt neue Koordinaten, die russischen Drohnen sind verschwunden. Im Wald donnern bald die Explosionen der Schüsse. Am Ende bekommen sie eine Erfolgsmeldung. Zwei Ziele vollständig eliminiert, die wichtig für eine russische Offensive sind. „Das ist der Krieg“, sagt Igor, „hätten die Russen uns doch nur in Frieden gelassen.“

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