Ursula von der Leyen spricht mit Präsident Selenskyj über den möglichen Beitritt des Landes zur EU. Die Union ist in dieser Frage allerdings gespalten.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Ursula von der Leyen setzt ein deutliches Zeichen. Die EU-Kommissionspräsidentin ist am Samstag zu Gesprächen über die ukrainischen EU-Beitrittspläne nach Kiew gereist. Dort wolle sie gemeinsam mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj eine „Bestandsaufnahme der für den Wiederaufbau benötigten gemeinsamen Anstrengungen und der Fortschritte der Ukraine auf ihrem europäischen Weg vornehmen“, erklärte Ursula von der Leyen in der ukrainischen Hauptstadt.

 

Der zweite Besucht der Kommissionschefin

Es ist bereits der zweite Besuch der Kommissionspräsidentin in Kiew. Bereits im April hatte war sie unter anderem in dem Kiewer Vorort Butscha, in dem kurz zuvor Kriegsverbrechen der russischen Armee bekannt geworden waren. Der ukrainische Präsidenten Wolodymyr Selenskyj überreichte ihr damals einen Fragenkatalog, der für die Bewertung der EU-Ambitionen des Landes maßgeblich ist. Die Ukraine hatte Anfang März, wenige Tage nach Beginn des russischen Überfalls auf das Land, einen EU-Beitrittsantrag gestellt. Die EU-Kommission wird voraussichtlich kommende Woche vor dem EU-Gipfel am 23. und 24. Juni ihre Einschätzung dazu vorlegen, ob der Ukraine in einem ersten Schritt der Status als Beitrittskandidat gewährt werden soll.

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Ursula von der Leyen hatte schon während ihres ersten Besuches die ukrainischen Hoffnungen geschürt, als sie sagte, „dass die Ukraine zur europäischen Familie gehört“. Nun sagte sie, dass die Gespräche mit Selenskyj und Ministerpräsident Denys Schmygal „in unsere Bewertung einfließen, die wir demnächst vorlegen werden“. Im selben Atemzug lobte sie in Kiew die parlamentarisch-präsidentielle Demokratie des Landes und die gut funktionierende Verwaltung, zugleich mahnte sie Reformen für den Kampf gegen Korruption und die Modernisierung der Verwaltung an.

Widerstand in der EU gegen Ukraine-Beitritt

Nicht alle Regierungen in der EU teilen jedoch diese positive Haltung gegenüber einer möglichen EU-Mitgliedschaft der Ukraine. Staaten wie Estland, Litauen und Lettland, aber auch Italien oder Irland machen sich nachdrücklich dafür stark, die Ukraine zügig zum EU-Kandidaten zu machen. Das sei „eine wichtige politische Botschaft, die wir so schnell wie möglich senden müssen“, sagte der litauische Staatspräsident Gitanas Nauseda am Dienstag nach Gesprächen mit Bundeskanzler Olaf Scholz. „Wir haben kein moralisches Recht, diesen Augenblick zu verpassen. Die Ukraine verteidigt dieses Recht mit ihrem Blut.“

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In der momentanen Kriegssituation wagt es kein EU-Staat, sich offensiv gegen die Ukraine zu stellen. Allerdings hat sich jüngst Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron zu Wort gemeldet und die Erwartungen auf einen schnellen Beitritt gedämpft. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat bislang nicht klar Stellung bezogen, jedoch betont, dass er keine Sonderregeln für einen beschleunigten EU-Beitritt der Ukraine akzeptieren werde. Dabei verwies er auch darauf, dass dies nicht fair gegenüber den sechs Länder des westlichen Balkan sei, die ebenfalls auf einen Beitritt zur EU hoffen. Serbien, Montenegro, Nordmazedonien und Albanien sind bereits EU-Beitrittskandidaten. Das Kosovo und Bosnien-Herzegowina warten noch auf diesen Status, doch der Prozess stockt seit vielen Jahren.

Viele Reformen von der Ukraine gefordert

Gegner eines ukrainischen EU-Beitritts verweisen auf den Kriegszustand in dem Land sowie auf Probleme mit Korruption und nicht umgesetzte Reformen. Immer wieder betont wird auch, dass der Kandidatenstatus auf keinen Fall die Aufnahmeentscheidung vorwegnimmt. Zudem ist nicht geklärt, wie lange dieser Schwebezustand andauern wird, in dem die geforderten Kriterien erfüllt werden müssen. So ist etwa die Türkei seit 1999 EU-Beitrittskandidat, hat sich zuletzt allerdings von einer Aufnahme in die Union wieder sehr weit entfernt. Das letzte Hindernis ist, dass die Entscheidung über einen Beitritt von allen EU-Staaten einstimmig getroffen werden muss.

In der Ukraine ist die Hoffnung auf den Kandidatenstatus allerdings groß. Präsident Selenskyj appellierte am Freitag erneut an die EU-Mitgliedstaaten, diese für sein Land überaus wichtige Entscheidung zu treffen. Die Ukraine müsse „aus der Grauzone geholt“ werden, forderte er in einer Videoansprache. Die EU könne einen historischen Schritt unternehmen und beweisen, dass Aussagen über die Zugehörigkeit des ukrainischen Volkes zur europäischen Familie nicht bloß leere Worte seien. Und auch der ukrainische Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk machte kürzlich im Europaparlament deutlich, dass es bei dem Kandidatenstatus auch um die Moral des ukrainischen Volks gehe. „Wir brauchen diesen Ansporn, wir brauchen diesen Beitrittskandidatenstatus. Das muss das ukrainische Volk aus Europa hören“, sagte er.