Die erst für Frühjahr erwartete russische Offensive hat bereits begonnen, sagen ukrainische Militärs. Vieles weist darauf hin, dass Russlands Armee nicht in der Lage ist, offensiv vorzurücken. Stattdessen legt es Putin auf einen zermürbenden Stellungskrieg an.

Wenn stimmt, was ukrainische Generalstabsoffiziere mutmaßen, dann hat die erwartete Offensive russischer Streitkräfte bereits begonnen: Mehr als 300 000 Soldaten, 1800 Kampf-, 4000 Schützen- und Transportpanzer, 3500 Artilleriesysteme und 300 Helikopter seien für die russischen Heerführer aktuell auf der etwa 1050 Kilometer langen Frontline im Osten und Süden der Ukraine verfügbar, sind sich die für die Beurteilung der Feindlage zuständigen Offiziere sicher. Und sie sind überzeugt: am vergangenen Mittwoch hat die für das Frühjahr erwartete Attacke der Russen begonnen. Nicht in Bachmut, auf das Journalisten und Analysten seit Wochen starren. Sondern 120 Kilometer südwestlich davon um das Kohlebergbaustädtchen Wuhledar.

 

Sind die russischen Streitkräfte nicht übermächtig?

Nach den ukrainischen Zahlen sind die russischen Kräfte etwa doppelt so stark wie zu Beginn ihrer Offensive am 24. Februar 2022. Videos ukrainischer Drohnenaufklärer legen allerdings hohe russische Verluste durch Artillerieangriffe und Attacken mit Drohnen, die zu Bombern umgebaut wurden, nahe. In vielen Videos wirken die russischen Soldaten schlecht ausgebildet, reagieren kopflos und scheinen nicht geführt zu werden. In russischen sozialen Medien verbreitete Fotos und Videos zeigen vor allem ältere russische Kampf- und Schützenpanzer aus den 1970er und 80er Jahren. Hohe Verluste müssen die russischen Angreifer auch durch Minenfelder hinnehmen. Wirkungsvoll werden die so gestoppten und gestauten Panzerspitzen durch Artillerieschläge zerschlagen. Das US-Verteidigungsministerium geht inzwischen davon aus, dass Russland etwa die Hälfte seiner insgesamt verfügbaren Kampfpanzer in der Ukraine verloren hat.

Was geschieht im seit Wochen umkämpften Bachmut?

Die einmal 75 000 Einwohner zählende Salzstadt Bachmut wird seit Mai 2022 von russischen Truppen und Söldnern angegriffen, ohne dass sie die Stadt besetzen konnten. Strategisch ist der inzwischen nahezu vollständig zerstörte Ort belanglos. Er dürfte zu zweidrittel bis dreiviertel eingekreist sein. Gerade in den nördlichen und südlichen Vororten toben heftige Kämpfe, die auf beiden Seiten zu hohen Verlusten führen. Die erzielten Geländegewinne sind für beide Seiten nur kurz erfolgreich. Seitdem der ukrainische Generalstab vergangene Woche die reorganisierte Panzergrenadierbrigade 30 und die als Eliteverband geltende Panzerbrigade 17, etwa 7000 Soldaten, im Norden der Stadt einsetzt, werden russische Kräfte von der für die Versorgung der Stadt wichtigen Autobahn M-03 zurückgedrängt.

Warum greifen die Russen Wuhledar an?

Mit einem Durchbruch bei dem einst 15 000 Einwohner Städtchen im Süden und beim Eisenbahnknotenpunkt Lyman im Norden würden die russischen Kräfte den Regierungsbezirk Donezk wieder unter ihre Kontrolle bringen. Das deutet darauf hin, dass Russlands Präsident Wladimir Putin nicht mehr daran glaubt, seinen Angriffskrieg weiter in die Ukraine vorantreiben zu können. Stattdessen scheint er einen Stellungskrieg zu planen, in dem er die Ukraine ausbluten lassen und die Entschlossenheit ihrer Verbündeten ins Wanken bringen will. Viele westliche Analysten glauben, dass die russischen Streitkräfte nicht mehr in der Lage sind, raumgreifend nach Westen in Richtung des Flusses Dnjepr anzugreifen.

Welche Folgerungen können aus der aktuellen militärischen Lage gezogen werden?

Das renommierte US-Institut für die Erforschung des Krieges stellte am Wochenende fest, dass das „russische Militär offenbar nicht in der Lage ist, mobilisiertes Personal wirksam auf den Krieg vorzubereiten“. Begleitet werde dieses Desaster durch einen Mangel an „adäquaten Fahrzeugen und Munition“.

Der britische Nachrichtendienst will erkannt haben, dass Russland in der vergangenen Woche „wahrscheinlich die meisten Opfer seit Beginn seiner Offensive in der Ukraine zu beklagen hatte“. Diese seien auf schlecht ausgebildete Soldaten, mangelhafte Koordination und fehlende Ressourcen zurückzuführen. Mit anderen Worten: Ähnlich wie Diktator Josef Stalin verheizt jetzt auch Russlands Autokrat Wladimir Putin seine Soldaten für vermeintliche Prestigeerfolge wie in Bachmut. Ob er damit einer ukrainischen Sommeroffensive im Mai/Juni etwas entgegenzusetzen hat, ist fraglich. Vor allem dann, wenn die vom Westen versprochenen drei Panzerbataillone mit deutschen Leopard-2-, britischen Challenger-2- und amerikanischen Abrams-M1-Panzern dann für den ukrainischen Generalstab verfügbar sind. Diese Waffensysteme sind den bislang bekannten russischen deutlich überlegen.