Anita dient als Feldsanitäterin in der ukrainischen Armee. Für russische Soldaten ist sie ein Ziel, für ihre Kameraden eine Lebensretterin. Selbst eine eigene Verwundung hält die 37-jährige Mutter einer Tochter nicht zurück.

Der Ambulanzwagen hat wenig Ausrüstung zu bieten. Ein alter VW-Transporter, hastig in Olivgrün überlackiert, ohne jede Innenausstattung. Eine graue Trage liegt auf dem blanken Metallboden, daneben der Notfallrucksack. Darin sind unter anderem Verbandszeug, Gummischläuche, Tourniquet, Bandagen, ein Beatmungsbeutel, Spritzen und Trachealkanüle. Das steht Anita zur Verfügung, um Menschen zu retten.

 

Dabei setzt sie ihr eigenes Leben aufs Spiel. Kein Rotes Kreuz auf weißem Grund kennzeichnet den Wagen als Sanitätsfahrzeug – normalerweise ein Schutzzeichen für den Verwundetentransport. „Die russischen Soldaten scheren sich nicht um die Genfer Konventionen. Ganz im Gegenteil, wir sind sogar ausgesprochene Ziele für sie. Sie schießen zuerst auf einen Rettungswagen. Das ist bitter“, sagt die 37-Jährige. Und so unterscheidet sich die Ambulanz äußerlich nicht von einem der üblichen Armeetransporter.

Der Wagen steht im Schatten eines Baums. Verdeckt, um nicht von Drohnen erkannt zu werden. Es gab an diesem Tag bereits mehrere Einschläge. Manchmal hört man auch den scharfen Knall, wenn die ukrainischen Streitkräfte eine Haubitze abfeuern. Das Dorf, irgendwo im Oblast Charkiw, nicht weit von der Front entfernt, ist verlassen. Es gibt kaum ein Haus, das nicht beschädigt ist oder in Trümmern liegt. Von der Schule ragen nur noch kahle Wände in den Himmel. Hier wartet Anita auf ihren Einsatz, wenn das Funkgerät sie zu den nahen Stellungen ruft.

43 000 Frauen dienen wie sie in der ukrainischen Armee, direkt an der Front meist als Sanitäterinnen. Seit Beginn der Invasion bis Anfang Mai 2023 fielen 107 Frauen oder wurden schwer verwundet. Die meisten von ihnen dürften Sanitäterinnen gewesen sein.

Die Bilder der Zerstörung sind für Anita zum bedrückenden Alltag geworden. Schon 2014, als Russland den Krieg in den Donbass trug, hatte sie sich als Rettungssanitäterin bei einer Freiwilligenorganisation beworben. Die ausgebildete Physiotherapeutin begleitete zwei Jahre lang die Evakuierungen der Verwundeten aus dem Kampfgebiet. 2019 trat sie in die Territorialverteidigung ein. Als am 24. Februar vergangenen Jahres Putin den Befehl zur groß angelegten Invasion auf die ganze Ukraine gab, meldete sie sich am ersten Tag zum Dienst.

Wenn sie nicht kämpft, tanzt Anita gern

Die russischen Einheiten standen bald vor ihrer Heimatstadt Charkiw. 80 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner flohen, Tausende, die blieben, suchten in U-Bahn-Stationen Schutz. Die Stadt wurde mit Artillerie und Raketen beschossen. In manchen Stadtvierteln blieb kein Haus unbeschädigt. Kaum ein Beobachter gab in den ersten Tagen der Invasion den Ukrainern eine Chance, die Großstadt noch lange zu halten. Doch Charkiw fiel nicht. Auch wegen Männern und Frauen wie Anita, die ihre Stadt tapfer verteidigten. „Charkiw ist eine lebendige und offene Stadt. Wir lieben unsere Freiheit, und wir kämpfen um sie“, sagt die Soldatin. Sie erzählt von ihrem Hobby. Anita tanzt für ihr Leben gerne. „Eigentlich bin ich für alle Tänze offen, egal, von welchem Erdteil“, meint sie. Sie erzählt davon, wie sie in ihrem Garten am Stadtrand von Charkiw gerne pflanzt und erntet. Von Blumen, die dort wachsen. Anitas Stimme wird weich. Inmitten des zerstörten Dorfs sind das Erzählungen aus einer fremden Welt. Stolz berichtet sie von ihrer 16-Jährigen Tochter, die Medizin studieren will. Davon, dass sie gerne noch einmal Mutter geworden wäre. Aber dann kam 2014 der Krieg. Und jetzt die Invasion. Sie hofft, dass ihre Tochter keine Uniform mehr tragen wird. „Aber leider deutet nichts darauf hin, dass dieser Krieg schnell endet“, sagt Anita.

Derzeit ist die Lage vor allem im Osten der Ukraine dramatisch. Am Sonntag berichtete die ukrainische Vizeverteidigungsministerin Hanna Maljar auf Telegram von schweren Kämpfen. Russische Truppen griffen bei Awdijiwka, Marjinka und Lyman im Donezker Gebiet an, schrieb sie. Auch bei Swatowe im angrenzenden Gebiet Luhansk rückten die Besatzer demnach weiter vor. Kleinere Erfolge gebe es bei Bachmut. Dort sei die ukrainische Armee wie auch im Süden im Vormarsch. Maljar sprach von „heftigem feindlichen Widerstand“.

Anitas Vater ist Kubaner. Das steht der dunkelhäutigen Sanitäterin ins Gesicht geschrieben. „100 Prozent ukrainisch mit kubanischen Blut“, sagt sie mit einem Lächeln. „Als die Invasion begann, war es für mich sofort klar, was ich zu tun habe. Es geht um mein Land, um meine Stadt, es geht um unsere Freiheit“, sagt die 37-Jährige. Als die russischen Verbände im Herbst vergangenen Jahres aus der ganzen Region Charkiw vertrieben wurden, wurden Anita und ihre Einheit nach Bachmut verlegt. „Es war eine harte Zeit“, sagt sie leise. Bachmut ist das Epizentrum des russischen Angriffskrieges, russische Einheiten feuern monatelange auf die Stadt, bis sie nur noch ein Trümmerhaufen ist. „Die Einschläge kamen oft ohne Unterbrechung. Wir standen unter Dauerbeschuss. Rings um uns krachten die Explosionen. Viele unserer Soldaten hatten sich in diesen kalten Wintermonaten das Covid-Virus eingefangen, kämpften geschwächt mit Fieber. Es war ein Albtraum“, sagt die 37-Jährige.

Es gibt so viele Tote und Verwundete. Ihre Aufgabe als Feldsantitäterin ist es, die Verwundeten so schnell wie möglich von der Front zum nächsten Stabilisierungspunkt zu bringen. Oft sind das Kellerräume, die Schutz vor den Einschlägen bieten. Ausgestattet sind sie mit OP-Tischen, einfachsten medizinischen Geräten. Dort sind Notoperationen möglich, die die Verletzten bereit für den Transport in die Hospitäler im Hinterland machen sollen. Für Anita zählt oft jede Minute, wenn sie die Verwundeten bringt. Sie muss Blutungen bei Soldaten stoppen, denen Explosionen Gliedmaßen abgerissen haben. Versorgt Wunden, die Schrapnelle in das Fleisch gerissen haben, legt Verbände auf Einschusslöcher in den Körpern. Das alles passiert, während der VW-Bus mit höchstmöglicher Geschwindigkeit über Schlaglöcher rattert, der Fahrer ausgebrannten Wracks und Trümmern auf der Fahrbahn ausweicht. Sie selber unter Beschuss kommen. Nicht alle Patienten schaffen es. So sterben Männer in den Kampfanzügen unter ihren Händen. Jedes Mal nimmt es die 37-Jährige mit. Es sind Bilder, die in ihr bleiben.

Die Retterin, verletzt und traumatisiert

Dann kam eines Tages in einer Stellung ein Einschlag, der sie selber traf. Mit voller Wucht hatte die russische Artillerie sie unter Feuer genommen. Die Wände wackelten unter dem Druck der nahen Einschläge. „Nach der Explosion war ich kurz bewusstlos“, berichtet Anita. Sie sah dann das eigene Blut auf ihrer Hose, merkte, dass sich Schrapnelle in ihr Bein gefressen hatten. Es pfiff in ihren Ohren. Anita begann, ihre verletzten Kameraden zu versorgen. Mit letzter Kraft. Sie werden evakuiert. Anita kommt selbst ins Krankenhaus.

Der Autor dieser Reportage traf sie Anfang März zum ersten Mal in der Rehabilitation. Anita hörte noch immer schlecht. Die Hölle von Bachmut stand ihr ins Gesicht geschrieben. Manchmal musste sie damals lange überlegen, wenn sie einen Satz bildete. Anita, die Retterin, war traumatisiert.

„Ich war sehr krank. Aber jetzt bin ich glücklich, wieder meine Arbeit zu machen. Hier ist mein Platz“, sagt sie heute in einem einfachen Englisch zum Abschied beim jüngsten Treffen nahe der Front. Einen Wunsch gibt sie dann in Ukrainisch nach Deutschland mit. „Wir bräuchten mehr und besser ausgestattete Ambulanzen. Die Straßen sind oft wie hier sehr schlecht, der Verschleiß an Material ist groß.“ Dann verschwindet sie mit dem olivgrünen VW-Transporter auf einer holprigen Straße in einem verlassenen Dorf nahe der Front.