Kriegsende 1945 Der Streit um Stuttgart

Hitlers Niederlage bietet einen Anlass zum Feiern: eine der zahlreichen französischen Paraden im Frühsommer 1945 vor den Ruinen des Wilhelmspalais. Foto: Landesmedienzentrum Baden-Württemberg

Für die Schwaben endete der Zweite Weltkrieg etliche Tage früher als in Berlin. Erst besetzten Franzosen die zerstörte Stadt. Nach wenigen Wochen mussten sie aber der US Army weichen.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Stuttgart - Zumindest in den Stuttgarter Kinos herrschte während der letzten Kriegstage noch die reinste Idylle. Die Naziikone Marika Rökk durchlebte auf der Leinwand Abenteuer ganz anderer Art als jene alltäglichen, welche ihre Zuschauer zu überstehen hatten. „Wenn ich Sie, mein Führer, für ein paar Augenblicke erheitern konnte, so bin ich darüber unendlich stolz und glücklich“, schrieb sie in einem Brief an Adolf Hitler. Ob ihr Film „Die Frau meiner Träume“, der in den Lichtspieltheatern der von Bomben zerstörten Stadt damals zu sehen war, das schwäbische Publikum erheitern konnte, ist nicht überliefert. Rökk begibt sich darin auf eine Flucht, um die sie viele beneidet haben dürften. Die 266 000 Stuttgarter, die den Krieg überlebt hatten, mussten ausharren.

 

Mitte April 1945 war Schluss mit solchen Belustigungen. Am 19. April rollten die letzten Züge aus dem Hauptbahnhof. Bis zu vier Mal am Tag heulten damals die Sirenen. Eine Frau aus Gablenberg beschrieb die Lage ihren evakuierten Verwandte so: „Wir in Stuttgart leben jetzt wie in einem Pulverfass, das zu jeder x-beliebigen Stunde knallen kann.“

Um 22.12 Uhr jenes 19. April 1945 knallte es zum vorerst letzten Mal. Das war der 53. Luftangriff der Alliierten – wobei sich nicht genau aufklären ließ, ob drei Tote, die in der darauffolgenden Nacht aufgefunden wurden, ebenfalls Opfer einer Fliegerbombe waren. Bei dem letzten offiziell protokollierten Bombenabwurf, der 16 Häuser in der Pragstraße zerstörte, kam ein Mensch ums Leben, sieben wurden verletzt. Tags darauf räumte das Flakregiment 139 seinen Gefechtsstand auf dem Killesberg. Der „NS-Kurier“ titelte zu Hitlers Geburtstag: „Auf den Trümmern unserer schönen Stadt Stuttgart hat zu stehen ein standhaft Herz.“ Von den Adressaten solcher Untergangspoesie hatten sich viele davongemacht. „Die führenden Parteileute haben unseren Ort schon seit Tagen oder Wochen verlassen“, notierte Henry Bernhard, später einer der ersten drei Herausgeber unserer Zeitung, ins Tagebuch. Er wertet dies als „ein echtes Vorbild nationalsozialistischen Heldentums“.

Französische Panzer in Plieningen

Französische und amerikanische Truppen rückten unterdessen auf die Stadt vor. Am 20. April wurde Stuttgart durch Artillerie beschossen. Zwischen 17 und 18 Uhr rollten französische Panzer in Plieningen ein, ohne auf Widerstand zu treffen. Damit war der erste Stadtteil Stuttgarts besetzt. Bis zuletzt war fragwürdig geblieben, ob die Nazis die Stadt kampflos räumen würden. Ein Führererlass vom 19. März 1945, der als „Nero-Befehl“ in die NS-Historie einging, hatte Hitlers letzte Getreue ermuntert, den anrückenden Besatzern „verbrannte Erde“ zu hinterlassen. Der württembergische NS-Gauleiter Wilhelm Murr wollte Stuttgart evakuieren, um die Stadt besser verteidigen zu können. Andernfalls sollte sie zerstört werden. Das redete ihm ein Parteigenosse aus: der Oberbürgermeister Karl Strölin. Er sprach von „geradezu selbstmörderischen Absichten“ und nannte Murrs Vorhaben „Wahnsinn“. Zerstört war ohnehin viel: 20 000 Spreng- und 1,3 Millionen Brandbomben hatten 4477 Luftkriegstote, 80 000 ruinierte Wohnungen und 4,9 Millionen Kubikmeter Schutt hinterlassen.

Am 21. April drangen Truppen der 5. Französischen Panzerdivision über die Neue Weinsteige in die Kernstadt vor. Zu den Kräften des Generals Jean de Lattre de Tassigny, der den Vorstoß kommandierte, zählten zu einem hohen Anteil Soldaten aus afrikanischen Kolonien. Andreas Förschler zitiert in dem Buch „Stuttgart 1945“ einen 18-jährigen Zeitzeugen: „Afrika zog in Heslach ein.“

Weniger dieser spezielle Aspekt als der Umstand als solcher, dass französische Streitkräfte die Stadt besetzten, war ein Affront, der als „l’Affaire de Stuttgart“ Niederschlag in den Geschichtsbüchern fand. Eigentlich hatten sich die Amerikaner die Kontrolle über den Korridor entlang der Autobahn von Karlsruhe über Stuttgart nach München als eine strategisch wichtige Versorgungslinie vorbehalten.

Die Übergabe der Stadt

Für sie war der Südwesten nur ein Nebenkriegsschauplatz – für die Franzosen hingegen der einzige. „Mon cher Général, Sie müssen den Rhein überqueren, Karlsruhe und Stuttgart erwarten Sie, selbst wenn sie es nicht wünschen“, hatte Charles de Gaulle, seit 1944 Präsident der Provisorischen Regierung Frankreichs, seinen Kommandeur angewiesen. Die Besetzung der beiden Städte habe „größte nationale Bedeutung“. Stuttgart war für ihn ein Faustpfand, um in der Besatzungspolitik mitreden zu können und als Siegermacht überhaupt wahrgenommen zu werden. Dabei war seine Armee fast ausschließlich mit amerikanischen Beständen ausgerüstet. Für die USA war die „Affaire de Stuttgart“ ein Ärgernis. Sie mussten sich vorerst damit begnügen, Bad Cannstatt zu besetzen. Den Einmarsch in die Kernstadt verweigerten ihnen die Franzosen.

Am 22. April erfolgte im Gasthaus Zum Ritter in Degerloch die offizielle Übergabe der Stadt. Der Nazi-OB Karl Strölin sollte zunächst im Amt verbleiben, wurde aber tags darauf entlassen. Am 24. April ließ ihn die US Army verhaften und für drei Jahre internieren. Mit einem Aushang kündigten die Franzosen ein striktes Besatzungsregime an. Falls ihre Soldaten angegriffen würden, hieß es, würden umgehend 25 Deutsche erschossen – „ohne Rücksicht darauf, von wem geschossen wird“. Eine standrechtliche Erschießung wurde auch sämtlichen Zivilisten angedroht, die sich zwischen 20.00 Uhr abends und 6.30 Uhr morgens auf der Straße blicken ließen. Am gleichen Tag fiel der letzte deutsche Soldat in Stuttgart: der Gefreite Emil Weidelich aus Eislingen an der Fils. Er wollte sich durch die Büsche an der Bopser-Anlage davonmachen und wurde wegen des Fluchtversuchs erschossen.

1389 Vergewaltigungen

Ansonsten verlief die Besetzung der Stadt weitgehend unblutig. Die französischen Soldaten verhielten sich allerdings nur wenig zimperlich. Sie plünderten – und misshandelten Frauen. „In den ersten acht Tagen waren wir Freiwild“, berichtet Zeitzeugin Ruth Caldeweyer aus dem Stuttgarter Westen, die damals 18 Jahre alt war. „Das Gefühl der absoluten Rechtlosigkeit war riesig.“ Daniela Dalagidis, bei Kriegsende 20, schildert ihre Angst: „Ich war hellblond. Meine Mutter hatte meine Haare mit Schuhwichse angestrichen, damit ich nicht blond aussah. Und wenn es an der Tür klopfte, sprangen meine Schwester und ich aus dem Fenster in den Garten zum Steigfriedhof, wo wir uns hinter den Grabsteinen versteckten.“ Vom 21. bis zum 30. April wurden in Stuttgart 1389 Vergewaltigungen angezeigt. Viele dieser Frauen wurden sogar mehrfach vergewaltigt. Vier der Opfer waren noch keine 14 Jahre alt, vier schon über 70.

Auf Vorschlag des NS-Stadtoberhaupts Strölin installierten die Franzosen am 23. April den späteren Oberbürgermeister Arnulf Klett als Chef der kommunalen Verwaltung. Der appellierte an die Bürger: „Ich bedarf der Mitarbeit aller, die sich nicht unmöglich gemacht haben.“ Zwei Drittel aller Wohngebäude in der Stadt waren zerstört. Für 120 000 Haushalte standen nur noch 70 000 Wohnungen zur Verfügung.

Das Besatzungsregime der Franzosen war von Vergeltungsgedanken geprägt. Sie billigten den Deutschen nur Lebensmittelkarten für 1046 Kalorien am Tag zu, senkten die Tagesration später sogar auf 970 Kalorien; weitaus weniger als in den anderen Besatzungszonen. Das Limit orientierte sich an der Lebensmittelzuteilung, wie sie die Wehrmacht im besetzten Frankreich verordnet hatte. Von Mitte Mai an konnte immerhin wieder Gemüse in der Markthalle verkauft werden. Der zunächst nur provisorische Rathauschef Klett machte sich daran, unliebsame Relikte der Vergangenheit aus dem Stadtbild zu räumen. Er ließ Nazisymbole und Kennzeichen der NS-Herrschaft entfernen. Nach dem 8. Mai wurden NSDAP-Mitglieder von ihren Ämtern in der Stadtverwaltung suspendiert. Bis Ende Juni mussten 550 Beschäftigte wegen ihrer Nazivergangenheit den Dienst quittieren.

Erzwungener Rückzug

Die „Affaire de Stuttgart“ wurde auf diplomatischem Wege bereinigt. Die Amerikaner erzwangen den Rückzug der Franzosen in das Gebiet südlich der Autobahn und hissten am 8. Juli ihre Flaggen in der Stadt. Die Versorgungslage besserte sich danach. Die neuen Besatzer gestanden den besiegten Deutschen 50 Prozent mehr Lebensmittel zu. Sie orientierten sich zunächst jedoch auch an den restriktiven Vorgaben der Direktive DJC 1067, die nach dem Urteil des Historikers Thilo Vogelsang „in ihrem Wesensgehalt darauf angelegt war, als Strafdokument zu wirken“. Was das in der Praxis bedeutete, schilderte ein Schüler, der auf der Straße ein Päckchen mit Zitronenpulver aus US-Beständen gefunden hatte. Er fragte einen amerikanischen Soldaten, was man damit anfangen könnte. Der nahm ihm das Päckchen weg und sagte: Das sei nicht für Deutsche, nur für Amerikaner.

Carepakete und Hilfsgüter zur Schulspeisung gewährleisteten jedoch, dass die Bevölkerung rasch besser versorgt wurde. Ende August 1945 ließ OB Klett verlauten, dass die Amerikaner die Neugründung politischer Parteien gestattet hätten. Am 18. September konnte unsere Zeitung erscheinen – anfangs nur zweimal die Woche, aber mit einer Auflage von 400 000 Exemplaren. Das war ein Privileg, das zu der Zeit nur wenigen informationshungrigen Deutschen vergönnt war. Im Herbst öffneten auch die Kinos wieder ihre Säle. Sie durften aber nur amerikanische Filme mit deutschen Untertiteln zeigen, unter anderem einen, dessen Titel so gar nicht dem Zeitgefühl entsprochen hat: Charlie Chaplins Stummfilmklassiker „Goldrausch“. Er erzählt vom Fluch der Gier.

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