Fast 250 Briefe hat Heinrich Eisenmann nach dem Tod seiner Mutter gefunden. Feldpostbriefe des Vaters, den er nie richtig kennengelernt hat – er starb, als Heinrich Eisenmann ein halbes Jahr alt war.

Welzheim - Ein Leben, verpackt in drei Schachteln. Fast 250 Briefe, alte Familienfotos. Ein Zeugnis aus der Lehrzeit als Koch im Ratskeller Stuttgart. Der Wehrpass. Ein „Feldkochbuch für warme Länder“. Auf dessen leicht vergilbten Seiten ein Rezept für Hammelragout und Tipps zur Zubereitung von Stachelschweinen und Antilopen. Das letzte Foto: Heinrich Eisenmann am 28. August 1943 an der Front in der Ukraine. Auf dem Porträtbild trägt der 32-jährige Welzheimer Uniform.

 

Sieben Tage später ist er tot. Am 4. September, seinem 33. Geburtstag, stirbt Heinrich Eisenmann im Krankenhaus von Snamjanka an den schweren Verletzungen, die er offenbar bei einem Brand an seinem Arbeitsplatz in der Feldküche erlitten hat. „So haben es seine Kriegskameraden meiner Mutter später berichtet“, sagt Heinrich Eisenmann junior. „Das kleine Menschlein“, seinen Sohn, hätte der Senior gerne anders genannt. „Warum gefällt euch der Name Sepp nicht?“, schreibt Heinrich Eisenmann nach Hause und fügt an: „Dann soll er eben Ernst Heinrich heißen.“

Die Mutter hat nie viel erzählt

Gerade ein halbes Jahr ist das erste und einzige Kind von Heinrich und Margarete Eisenmann auf der Welt, da wird es zur Halbwaise. Trotz allem sei er „nicht ungut aufgewachsen“, sagt Heinrich Eisenmann, dessen Mutter kein zweites Mal geheiratet hat. „Meine Mutter hat nie viel erzählt über meinen Vater“, berichtet er, „und ich habe wenig über diese Zeit mit ihr gesprochen.“ Mit 97 Jahren starb die Mutter, nun konnte er nicht mehr fragen. „Ich hätte mich früher darum kümmern sollen“, sagt Heinrich Eisenmann bedauernd. Das, was er über seinen Vater weiß, hat er vor allem von anderen erzählt bekommen. „Politisch engagiert war mein Vater nicht“, weiß Heinrich Eisenmann. Ein begeisterter Motorradfahrer sei er gewesen. Der Sohn gleicht ihm da ein bisschen: Er hat als junger Mann eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker gemacht und zeit seines Lebens in der Autobranche gearbeitet.

Manches weiß Heinrich Eisenmann auch aus den zahlreichen Feldpostbriefen, die sein Vater nach Hause geschickt hat. Margarete Eisenmann hat sie sorgsam verwahrt, ihrem Sohn zeigte sie die Schriftstücke zu ihren Lebzeiten aber nicht. Und der war beschäftigt mit dem eigenen Leben, der eigenen Familie und der Arbeit. „Erst nach ihrem Tod habe ich gesehen, was alles da war“, erzählt Heinrich Eisenmann: Briefe des Vaters an die Mutter und die Tanten, die das Gasthaus Lamm am Laufen hielten.

Statt 100 Mann nur noch 20

Was kann man aus Feldpostbriefen über einen Menschen herauslesen? Schon das reine Entziffern der leicht vergilbten Briefe ist teilweise eine Herausforderung, vor allem bei den letzten Exemplaren aus dem Jahr 1943. „Die Schrift hat sich im Lauf der Jahre verändert“, berichtet Heinrich Eisenmann. Die anfangs schön geschwungenen Buchstaben werden immer krakeliger – nach Einschätzung des Sohnes wohl eine Folge der widrigen Umstände, unter denen die Briefe verfasst wurden.

In den Schreiben allerdings spielt das Kriegsgeschehen eine Nebenrolle, sei es aus Vorsicht, Angst vor Zensur oder um die Lieben daheim zu schonen. Patriotische Parolen? Fehlanzeige. Mal schreibt der Koch, dass er froh sei um seine Küchenhelfer, mal berichtet er, die einheimische Bevölkerung sei freundlich und hilfsbereit. „Er erwähnt kaum Orte oder Bewegungen, das durfte er wohl nicht“, vermutet Heinrich Eisenmann. Was sich an der ukrainischen Front abspielte, schimmert dennoch ab und zu durch, etwa wenn der „Lamm-Heiner“ erwähnt, dass er plötzlich statt einer 100 Mann starken Truppe nur noch 20 Menschen zu versorgen hat.

Reise zum Grab des Vaters

Snamjanka – den Ortsnamen schnappte Heinrich Eisenmann einige Zeit vor dem Tod seiner Mutter auf. „Ich bin in eine Buchhandlung gegangen und habe nach einer Karte der Ukraine geschaut.“ Im Internet stieß er auf eine Datenbank, recherchierte, entdeckte tatsächlich seinen Vater – und entschloss sich, mit einer über den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge organisierten Tour in die Ukraine zu reisen. „Es war mir sehr wichtig zu sehen, wo mein Vater beerdigt wurde.“

Seiner betagten Mutter hat er nichts davon erzählt: „Das hätte sie zu sehr belastet.“ Heinrich Eisenmann hat das Krankenhaus gesehen, in dem sein Vater 1943 starb und hinter dem er und weitere Patienten in einem Wäldchen begraben wurden. Der Volksbund hat diese Toten umgebettet – auf einen neu angelegten Friedhof in Kirowograd. Heinrich Eisenmanns Grab ist das mit der Nummer 1425. „Ich habe gesehen, was ich unbedingt sehen wollte, und bin zufrieden nach Hause“, sagt sein Sohn.

Ein Stück Geschichte

Die Briefe seines Vaters hat er inzwischen entziffert und feinsäuberlich nach Adressaten und Zeitabschnitten sortiert. Doch der 75. Todestag seines Vaters am 4. September beschäftigt ihn, treibt ihn seit Monaten um. Seines Vaters Schicksal und das anderer Betroffener sei doch ein Stück Geschichte, an dem sich auch aufzeigen lasse, „was bei falscher politischer Steuerung passieren kann“. Zeitgeschichtliche Dokumente, viel zu schade nur für die Schublade.

Was also tun mit den Briefen, den Fotos, dem Feldkochbuch? Gerne würde der Welzheimer all das zum Beispiel in Form einer Ausstellung mehr Menschen zugänglich machen. „Es gibt doch sicher Leute, die in einer ähnlichen Situation sind wie ich“, sagt er. Vielleicht, so seine Hoffnung, finden sich für solch ein Projekt ja noch einige Mitstreiter, die Ähnliches vorhaben.