Zum hundertsten Jahrestag des Kriegsausbruchs 1914 sind etliche Bücher erschienen, welche die Schuldfrage in den Vordergrund rücken – und manche Historiker hegen den Verdacht, wir Deutsche wollten uns aus der Verantwortung stehlen.

Stuttgart - Ausgerechnet Christopher Clark, der in England lebende australische Historiker, hat mit seinem Buch „Die Schlafwandler“ die Debatte über die Schuld der Deutschen am Ersten Weltkrieg wiederbelebt. Dabei vertritt er die These, alle Länder, die am Krieg beteiligt waren, seien ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden. Es gebe keinen „Schuldigen“, den man im Nachhinein mit der „smoking gun“, dem rauchenden Colt in der Hand, ertappen könne. Ohnehin hält Clark den Schuldbegriff für keine Kategorie der Geschichtsschreibung. Die Hypermoralisierung der Schuldfrage durch den Versailler Vertrag hält er für eine Jahrhunderthypothek.

 

Bis zum Ersten Weltkrieg gab es auch im Völkerrecht keinen „Schuldigen“. Es gab das „jus ad bellum“, das Recht zum Krieg. Dabei ging es um Interessen, nicht um Moral. Als Napoleon 1815 besiegt war und die Sieger sich zum Wiener Kongress versammelten, wurde Frankreich als Verlierer gleichberechtigt an den Verhandlungstisch gebeten. Aber damals waren die Kriege noch keine Volks-, sondern Kabinettskriege. Beim Ersten Weltkrieg war alles anders. Um die Massen für eine Sache zu mobilisieren, deren Sinn nicht so recht einleuchten wollte, musste der Feind moralisch verurteilt werden. Der britische Premierminister Herbert Henry Asquith formulierte 1916 vor dem Unterhaus, es gehe hier um einen Kreuzzug gegen „deutsche Barbarei und ungezähmte Machtgier“.

Der Einmarsch der Deutschen ins neutrale Belgien indes war ein geeigneter Vorwand für moralische Argumente, wobei unterschlagen wurde, dass auch England und Frankreich das kleine Land als Durchmarschgebiet vorgesehen hatten. Nach vier Jahren Krieg, Millionen von Toten und verwüsteten Landstrichen musste es einen Schuldigen geben, und das konnte nach Lage der Dinge nur das Deutsche Reich sein. Dazu hätte es eines Schuldartikels im Versailler Vertrag gar nicht bedurft. Hier also irrt Christopher Clark, wenn er meint, erst dieser Artikel habe die hypermoralische Aufladung der Debatte bewirkt.

Letzte Rate erst 2010 beglichen

Zwar lautete der berühmt-berüchtigte Artikel 231 im Vertragstext: Deutschland nebst seinen Verbündeten erkenne an, „als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich zu sein, welche die alliierten Regierungen als Folge des ihnen aufgezwungenen Krieges erlitten“ hätten. Der Initiator dieser Vorschrift war der junge amerikanische Gesandte John Foster Dulles (später ein politischer Freund Konrad Adenauers), dem es weniger auf die Schuld als auf die völkerrechtliche Absicherung der von Deutschland zu zahlenden Reparationen ankam. Tatsächlich wurde die letzte Rate dieser Schuld im Oktober 2010 von der Bundesrepublik beglichen.

Der ursprüngliche Sinn dieses Schuldartikels ging aber rasch verloren. In London und Paris ließ er sich moralisch interpretieren, in Deutschland wirkte er geradezu verheerend. Man hatte hier doch gemeint, einen Verteidigungskrieg zu führen. Schlimm genug, dass man ihn verloren hatte, aber dass man ihn auch noch vom Zaune gebrochen haben sollte, war eine Demütigung, die man nicht auf sich sitzen lassen konnte. Es entbrannte ein Kampf um die sogenannte Kriegsschuldlüge, der die Weimarer Republik belastete und Hitler die Wähler zutrieb.

In der Bundesrepublik war dies kein Thema mehr, auch deshalb, weil der Erste in den Schatten des Zweiten Weltkriegs geraten war. Erst in den sechziger Jahren flammte die Debatte wieder auf, als der Hamburger Historiker Fritz Fischer in seinem Buch „Griff nach der Weltmacht“ Deutschland als den Hauptschuldigen am Kriegsausbruch 1914 darstellte. Er prägte damit das Geschichtsbild der jüngeren Generation. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hatte man sich darauf verständigt, dass der Ausbruch des Kriegs keineswegs zwangsläufig gewesen war und die Entscheidungsträger durchaus Möglichkeiten gehabt hätten, die Katastrophe zu verhindern.

Bücher erscheinen pünktlich zum hundertsten Jahrestag

Pünktlich zum hundertsten Jahrestag sind nun etliche Bücher erschienen, welche die Kriegsschuldfrage wieder in den Vordergrund rücken, vor allem eben Clarks „Schlafwandler“ und Herfried Münklers „Der große Krieg“. Das war allerdings nicht die Absicht der Autoren. Beide sehen die europäischen Mächte verstrickt in ein „diplomatisches Vabanque-Spiel“, für das alle mehr oder weniger Verantwortung tragen. Beide Bücher erleben hohe Auflagen in der Bundesrepublik und wecken den Verdacht, den Deutschen sei diese moralische Entlastung willkommen.

Das freilich will nicht allen gefallen. So schreibt der Historiker Gerd Krumeich: „Es gibt in Deutschland einen großen Durst nach gesunder Vergangenheit“, und der Freiburger Historiker Jörn Leonhard registriert eine „allzu starke Entlastung Deutschlands und Österreichs“. Am deutlichsten wird der englische Historiker John C. G. Röhl, der mit einer großen Monografie über Kaiser Wilhelm II. hervorgetreten ist. Er wirf Clark vor: „Ein Historiker, der bewusst hinter dem neuesten Forschungsstand zurückbleibt, verletzt die Grundregeln der Geschichtsschreibung.“ Clark habe das Drängen des deutschen Militärs zum Krieg übersehen und komme somit zu einem Freispruch der deutschen Reichsregierung. „Clark lockt die Deutschen auf einen geschichtspolitischen Sonderweg“.

Verzerrung der historischen Wirklichkeit

Auch die in England lehrende Annika Mombauer meint, Clarks „Unfallthese“ verzerre die historische Wirklichkeit. Alles andere als schlafwandlerisch habe man in Berlin nach den Morden von Sarajewo gesagt: Jetzt oder nie! Die „Fischer-Enkelinnen“ Annika Mombauer und Christa Pöppelmann („Wie man einen Weltkrieg beginnt und die Saat für einen zweiten legt“) sehen in der Bundesrepublik eine „nicht unbedenkliche Entwicklung“. Die These von der Unschuld sei nur zu vertreten, wenn man die Forschung außer acht lässt“. Man kann nur hoffen, dass diese Debatte nicht endlos fortgeführt wird, denn neue Erkenntnisse sind kaum zu erwarten.

Hundert Jahre danach käme es darauf an, sich nicht mehr nur national, sondern europäisch zu erinnern. Immerhin hat man sich auf die Formel von der „europäischen Katastrophe“ geeinigt. Bei den Siegernationen England und Frankreich fällt es allerdings schwer, für die gemeinsamen Gedenkfeiern eine Linie zu finden, die europäische Interessen berücksichtigt, aber auch der eigenen Bevölkerung das Gefühl gibt, man habe diesen Krieg nicht umsonst geführt. Schließlich war er für beide Nationen „the great war“, der große Krieg. Dem hat der britische Bildungsminister Michael Gove Ausdruck gegeben, als er in patriotischer Aufwallung von der „klaren Schuld Deutschlands“ sprach. Aber so denken längst nicht mehr alle in Großbritannien. Der Historiker Niall Ferguson hat Gove entgegengehalten: „Wir werden aus der Geschichte überhaupt nichts lernen, wenn wir sagen, die Deutschen seien an allem schuld gewesen“.