Von Mannheim aus hat Ignace Murwanashyaka Milizen im Kongo gesteuert. Er ist der Chef einer der brutalsten Gruppen und steht nun vor Gericht.  

Politik/ Baden-Württemberg: Christian Gottschalk (cgo)

Stuttgart - Weltgerechtigkeit ist ein großes Wort. Am Mittwoch hat das Oberlandesgericht in Stuttgart mit dem Versuch begonnen, ein Stück mehr Weltgerechtigkeit zu schaffen. Es ist der Versuch, eine Bürgerkriegssituation aus der Mitte des afrikanischen Dschungels in einen weiß getünchten Saal zu transferieren, den das Landeswappen Baden-Württembergs schmückt. Es wird um Menschen gehen, die erschossen wurden, erstochen oder enthauptet. Es geht um übelste Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen, die eigentlich noch Kinder sind, um abgetrennte Gliedmaßen und am lebendigen Leib verbrannte Zivilisten. Und es geht um das deutsche Prozessrecht.

 

Im Sitzungssaal Nummer sechs haben Ignace Murwanashyaka und Straton Musoni auf der Anklagebank Platz genommen. Sie sitzen dort, weil deutsche Behörden nicht daran glauben, dass die Männer in ihrer Heimat ein faires Verfahren erwarten können. Diese Heimat heißt Ruanda und ist gut 6000 Kilometer von Stuttgart entfernt. Dort und im Osten des Kongos hat derjenige das Sagen, der das Gewehr im Anschlag hält oder die Behörden schmiert. Es gibt dort sehr viele Gewehre, und sehr viel Schmiergeld. Deutschland hat einen Auslieferungsantrag Ruandas abgelehnt.

Erste Anklage dieser Art in Deutschland

In Stuttgart soll das Gesetz das Sagen haben. Genauer, das Völkerstrafgesetzbuch. Seit neun Jahren regelt es in Deutschland die Folgen der Straftaten gegen das Völkerrecht. Ob es dem 5. Senat unter dem Vorsitzenden Richter Jürgen Hettich gelingt, auf dessen Grundlage Gerechtigkeit zu schaffen, ist offen. Historisch ist der Prozess sicher schon jetzt: Noch nie zuvor ist in Deutschland eine Anklage nach diesem Paragrafenwerk zugelassen worden. Angeklagt sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit in 26 Fällen und 39 weitere Kriegsverbrechen.

Ignace Murwanashyaka trägt Jeans, ein lilafarbenes Hemd und einen Rosenkranz um den Hals. Wenn er den Sitzungssaal betritt, und das wird er der zahlreichen Unterbrechungen wegen ein gutes halbes Dutzend Mal machen, bewegen sich seine Lippen. Wie zum Gebet. In wenigen Tagen wird er 48 Jahre alt. Er wirkt jünger, als er freundlich ins Publikum, in die Fernsehkameras und zu den Fotografen winkt. Sieht so ein Rebellenchef aus, der für den Tod Hunderter von Zivilisten verantwortlich ist? Für Massenvergewaltigungen, Brandschatzungen und Raub? In Mannheim mochten dies seine ehemaligen Nachbarn nicht glauben. Dort hat Ignace Murwanashyaka bis zu seiner Festnahme am 17. November 2009 gelebt. Er war integriert in seine Kirchengemeinde St. Peter und Paul, gläubig, freundlich, hilfsbereit. 

189-seitige Anklageschrift

Auch in Kipopo, in Walikale oder Lubero kannte man Ignace Murwanashyaka. Dort, in den Dörfern des Ostkongo, wurde und wird Murwanashyaka von manchen verehrt, von vielen gefürchtet als Chef der FDLR. Das Kürzel steht für "Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas" und hat mit "Befreiung" des vom Krieg der Hutus gegen die Tutsis geplagten Land nicht viel zu tun. Mit Demokratie gleich gar nichts. Straton Musoni, der zuletzt im beschaulichen Wolfschlugen am Rande der Filder wohnte, und für eine Fremdfirma im Stuttgarter Justizministerium die Computer gewartet hat, soll der Stellvertreter Murwanashyakas gewesen sein.

Murwanashyaka sitzt im Gerichtssaal und schweigt, während seine Verteidiger das Verlesen der Anklageschrift verzögern. Früher hat er viel kommuniziert. Per E-Mail, Telefon, SMS und Skype. Er hat Anweisungen gegeben für den Krieg im Dschungel, Operationen geplant und genehmigt, geändert und selten auch verworfen. Das behauptet die Bundesanwaltschaft in ihrer 189-seitigen Anklageschrift. Die Bundesanwälte haben vor Ort ermittelt, Telefone abgehört, Daten aufgezeichnet und die Beweismittel aus der Sprache Kiryawanda übersetzt. Als der Bundesgerichtshof im Juni die Haftverlängerung für Murwanashyaka genehmigte, wies er darauf hin, wie schwierig es gewesen sei, Übersetzer für diese Sprache aufzutun. Die Sprache wird in dem Prozess nicht die einzige und nicht die größte Schwierigkeit sein.

Murwanashyaka war Chef von brutaler Gruppe

Ricarda Lang ist die gewählte Pflichtverteidigerin von Ignace Murwanashyaka. Keine "Anarcho-Verteidigerin", wie sie selber sagt, jemand, der sich formalistisch an die Regeln der Strafprozessordnung halte. Das wird man merken. Lang spricht von einem "politischen Prozess" und davon, dass gegen ihren Mandanten eine mediale Vorverurteilung stattgefunden habe. Das gehört zu ihrem Job. Ricarda Lang sagt auch, sie sehe die FDLR "nicht als eine ausländische, terroristische Vereinigung an". Diese Ansicht teilen nicht viele.

Im Dreiländereck zwischen Ruanda, Uganda und der Demokratischen Republik Kongo ist die Lage unübersichtlich. Verbündete werden zu Feinden, Waffenbrüder zu erbitterten Gegnern. Die FDLR ist eine bewaffnete Gruppe, die sich hauptsächlich aus ruandischen Hutu formiert und seit 1994 unter verschiedenen Namen im Ostkongo operiert. Menschenrechtsgruppen werfen allen Konfliktparteien schwere Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung vor. Die FDLR gilt als eine der brutalsten. Ignace Murwanashyaka war ihr Chef.

Ist in Deutschland als eine Millionen Menschen sterben

Seit 1989 ist Murwanashyaka in Deutschland. Er hat in Bonn Wirtschaft studiert und zu dem Thema "Geldnachfrage in Südafrika" seine Doktorarbeit geschrieben. Er war während des gigantischen Völkermordes 1994, als der Volksstamm der Hutu die Gruppe der Tutsi metzelte - und diese in einer Art Gegenoffensive später ähnlich über die Feinde herzogen - in Deutschland. In seiner Heimat starben rund eine Million Menschen. Über die Frage, wie genau er in der Folgezeit zum Führer der Hutu-Rebellen wurde, wird der Prozess vermutlich noch Aufklärung bringen. Über die Tatsache an sich gibt es kaum Zweifel. Im ARD-Fernsehen hatte sich Murwanashyaka im Jahr 2008 gerühmt, uneingeschränkter Boss der FDLR zu sein.

Man wirft ihm nicht vor, die Gräueltaten selbst begangen zu haben. Der Vorwurf lautet, in den Jahren 2008 und 2009 die Mittel gekannt, gebilligt und gutgeheißen zu haben, die von den geschätzt bis zu 6000 FDLR-Milizen im Kongo angewendet werden. Auch heute noch. Straff organisiert seien die Milizen, sagt die Bundesanwaltschaft. Ihr Führer hätte die planmäßig an der Zivilbevölkerung begangenen Massaker stoppen können. Im Fernsehen hatte sich Murwanashyaka gerühmt, genau zu wissen, was im afrikanischen Busch so vor sich geht. Nun schauen die Menschen aus Afrika sehr genau darauf, was in Stuttgart passiert. Seit Tagen ist der bevorstehende Prozess dort ein bestimmendes Thema.

Schädigt Verfahrensfehler den Prozess?

Die Feinheiten der deutschen Strafprozessordnung mehr als 6000 Kilometer weiter in den Süden zu transportieren wird keine beneidenswerte Aufgabe. Aber darum wird es schon auch gehen, das hat am Mittwoch der erste Prozesstag gezeigt. Mit einer Flut von Einstellungs-, Aussetzungs- und Unterbrechungsanträgen haben die Verteidiger der beiden Angeklagten das Gericht beladen. Den Bundesanwälten werfen sie Befangenheit vor. Der Angeklagte habe nicht genügend Akteneinsicht erhalten. Die Dolmetscher bei den Zeugenbefragungen in Afrika seien von der ruandischen Regierung ausgesucht, mithin Vertreter einer verfeindeten Konfliktpartei und untauglich. Ein Anwalt verweist bei seinem Antrag zur Begründung auf die Motive, die der Gesetzgeber hatte, als er im Jahr 1877 die Reichsstrafprozessordnung erließ. Rechtsstaatlichkeit kann manchmal nur sehr schwer verständlich sein.

Schwer verständlich ist auch, dass noch nicht geklärt ist, ob denn am Mittwochmittag der Anklagesatz verlesen worden ist. Praktisch war das der Fall. Juristisch ist es unklar. Ignace Murwanashyakas Verteidiger rügen, dass bei der mündlichen Verlesung die Namen der Zeugen anonymisiert wurden. Noch hat der Senat nicht entschieden, ob das ein solch schwerwiegender Fehler war, dass alles wiederholt werden muss. Das erste Verfahren in der Geschichte des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag dient als mahnendes Beispiel. Der kongolesische Rebellenführer Thomas Lubanga steht kurz vor der Haftentlassung. Nach eineinhalb Jahren Prozess - wegen Verfahrensfehler.